© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Rußland, deine Kinder
Andere Sitten: Paddeln mit Gummipuppen, Roofclimbing und nackte Schlittschuhläufe
Verena Inauen

Türme aus rotem Gold, Wodka kalt wie das Eis und Kaviar zum Frühstück ist die eine Seite von Mütterchen Rußland. Auf der anderen suchen Tausende junger Menschen in immer waghalsigeren Abenteuern einen Adrenalinkick der besonderen Art. Wenn es in deutschen Partyliedern „Wirf die Gläser an die Wand“ heißt, dann winkt der russische Nachwuchs nur gelangweilt ab. 

Sie klettern indes ohne Sicherung auf die Dächer von Hochhäusern, schwimmen im vier Grad kalten Wasser neben Eisschollen, paddeln mit aufgeblasenen Frauenpuppen in Stromschnellen herum oder legen nackt einen halben Kilometer in Schlittschuhen auf einem zugefrorenen See zurück. Die Winter im Norden sind lang, die Liste der skurrilen Einfälle ebenfalls.

Alles dreht sich um das kalte Naß 

Roofer werden jene Jugendlichen genannt, die auf die höchsten Bauwerke und Gebäude klettern, nur um sich dort zu fotografieren und zu filmen. Der Adrenalinkick steht dabei im Vordergrund – der bloße Gedanke, daß die eigene Muskelkraft versagen könnte oder die schmalen Streben der Fernsehmasten nachgeben könnten, lockt die jungen Menschen plötzlich hinter Fernseher und Computerspielen hervor. Anders als in Deutschland, wo bis zu zwei Jahre Haft wegen Hausfriedensbruchs auf die seltsamen und gefährlichen Klettermanöver stehen, läßt das russische Recht den maximal 22jährigen Menschen ihren eigenen Kopf. 

Und darin scheinen sich allerhand skurrile, gefährliche, aber auch sportliche Ideen zu tummeln. Während das „Roofing“ bestimmt zu den gefährlichsten Freizeitbeschäftigungen zählt, füllt die „Bubble Baba Challenge“ die Kategorie der skurrilen Einfälle voll und ganz aus. Dort, wo sich für gewöhnlich Sportler auf ihren Kajaks in den Vuoksa-Stromschnellen nahe St. Petersburg in die Fluten stürzen, schwimmen jährlich rund 800 Teilnehmer mit ihren Gummipuppen 1.200 Meter lang um die Wette. 

Die Plastikfreundin nicht zu verlieren ist dabei das Ziel Nummer eins, wer besonders talentiert ist, schafft es sogar, während des rasanten Wasserrittes auf ihr sitzen zu bleiben. Wer hinter der waghalsigen und verrückten Aktion eine Menge Alkohol vermutet, irrt. Teilnehmen dürfen nur erwiesenermaßen nüchterne Puppenführer, den wärmenden Wodka gibt es erst hinterher.

Daß sich während der langen russischen Winter auch die Einwohner von Irkutsk den Sommer herbeiwünschen, zeigt ein ganz besonders ausgefallenes Vergnügen: Die Teilnehmer müssen auf dem zugefrorenen Baikalsee bei minus zehn Grad Lufttemperatur 500 Meter in Schlittschuhen zurücklegen. Nackt! Dick und Dünn, Alt und Jung, tummelt sich, beklatscht von dick eingepackten Randgästen, nur mit Bikini, Badehose und Mütze bekleidet, über das blank polierte Eis. Ob auch hier die Null-Promille-Grenze gilt? Heitere Videos lassen andere Schlüsse zu. Sehr viel ernster begehen Millionen Russen jedoch die Nacht vom 18. auf den 19. Januar, wenn sie in Eisschollen durchsetztes Wasser steigen und sich dreimal bekreuzigen. 

Die Gläubigen feiern dann das Epiphanias-Fest der russisch-orthodoxen Kirche. Nach einem tiefen Durchatmen tauchen sie im Beisein von Priestern in das eiskalte Wasser und waschen sich so von ihren Sünden frei. Wem das mitternächtliche Nacktbaden im frostigen Rußland doch etwas zu kalt ist, der kann aber immerhin einen Schluck von dem gesegneten Wasser trinken, um sich zu reinigen. 

Vor einigen Jahren wurden im sibirischen Irkutsk zwar Hunderte Gläubige mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus gebracht, ein Priester reagierte aber gelassen auf die Stäbchenbakterien in den verkauften Wasserflaschen, die zu Durchfall und Erbrechen führten: „Das Wasser soll zur Reinigung des Menschen beitragen; auf welche Weise sich die Reinigung vollzieht, wird dabei nicht gesagt.“