© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Neurowissenschaftliche Utopien
Hirn-Computer-Symbiosen: Der Einstieg ins posthumane Zeitalter läßt auf sich warten
Tobias Schramm

Obwohl noch in der pannenreichen Erprobung, haben Pkw, die sich ohne Fahrer von A nach B bewegen, ihren futuristischen Charme heute bereits wieder eingebüßt. Selbst der „Enhanced Autopilot“ des US-Elektroautoherstellers Tesla ist eher ein Marketing-Gag und den Fahrassistenzsystemen deutscher Oberklassenlimousinen keinesfalls überlegen. Die Teststrecke für autonome Fahrzeuge auf der Autobahn A9 bei Ingolstadt dient lediglich dazu, zusätzliche Steuergelder für milliardenschwere Autokonzerne zu requirieren. Auch projektierte Schiffe ohne Kapitäne, Flugzeuge ohne Piloten und die vielgepriesene menschenleere Fabrik samt humanoider Roboter wirken eben wenig sensationell im Vergleich zu jenen Hybris-Projekten, die auf eine Symbiose von Geist und Technik hinarbeiten.

Der japanischstämmige US-Physiker Michio Kaku, Sohn von Internierten aus Roosevelts berüchtigtem Tule Lake Segregation Center und einer der Väter der Stringtheorie, hat dem deutschen Publikum tiefe Einblicke in die ganze Bandbreite dieser von IT-Konzernen finanzierten Forschungen vermittelt, die in den Labors des Silicon Valley das posthumane Zeitalter einläuten sollen („Die Physik des Bewußtseins“, JF 46/14).

Ohne seinen Körper, dieses Relikt aus seiner evolutionären Vergangenheit, verlassen zu müssen, weil im Blutkreislauf zirkulierende „Nanobots“ den Alterungsprozeß aufhalten, aber mit Maschinenintelligenz anstelle seines weniger leistungsfähigen Gehirns versehen, dürfte sich der Cyborg, der Nachfolger des Homo sapiens, vom Ende des 21. Jahrhunderts an als neuer Herr der Erde seines unsterblichen Lebens erfreuen.

Milliarden-Investitionen für Science-fiction-Visionen?

Wenn auch in Kakus Reportagen reichlich schrille Phantastik durchscheint, so ist nicht zu verkennen, daß Google, Facebook, Microsoft & Co. hier auf Geschäftsfeldern wie Gentechnik, Nanotechnologie oder Raumfahrt nicht Milliarden Dollar allein in Science-fiction investieren. Insoweit zeugen das fahrerlose Auto oder eine Fülle anderer, besser funktionierender Transformationen der Robotik-Forschung in die Alltagspraxis durchaus von realistischeren Vorgriffen auf die postbiologische Ära. 

Trotzdem wachsen die Bäume gerade auf jenem Forschungsterrain nicht in den Himmel, auf das sich im Silicon Valley beinahe religiöse Erlösungshoffnungen richten: den brain-machine-interfaces (BMI), der Zwischenwelt der Hirn-Maschine-Schnittstellen. Denn daß auf diesem Sektor derzeit vieles noch „völlig utopisch“ oder sogar „möglicherweise dauerhaft utopisch“ sei, diese human-beruhigende Botschaft, gerichtet an ein Laienpublikum, sendet Martin Kurthens Essay über „BrainConnect/MindDissect“ aus (Tumult, 1/17).

Der Oberarzt am Zürcher Epilepsie-Zentrum, der überdies an der Uni Bonn Neurologie und Klinische Neuropsychologie lehrt, geht bei seiner Einführung in die schwierige Materie von primär relevanten medizinisch-therapeutischen Anwendungen aus. BMI sollen hier Interaktionen mit der Welt für Menschen ermöglichen, denen die natürlichen Wege des Input (Auge, Gehör: afferente BMI) oder Output (Lateralsklerose, Querschnittlähmung: efferente BMI) von Informationen versperrt sind. Da natürliche Sinneszellen derart differenziert und leistungsfähig sind, können afferente BMI als technische Substitute nur gröbste Ersatzleistungen bieten. Eine technische Entwicklung, die die Leistungen von Auge oder Ohr erreicht oder gar übertrifft, sei schlicht „nicht absehbar“.

Allerdings sei es machbar, einen Sinnesreiz direkt ins sensorische Areal der entsprechenden Sinnesmodalität zu leiten, um die neuralen Übertragungswege zu umgehen und so eine direkte Verbindung zwischen Gehirn und einem Computer herzustellen. So würde, um zwei „Wunschoptionen“ aufzurufen, etwa manipulative Werbung direkt ins Gehirn gelangen, und ebenso ließen sich direkt Informationen herausziehen – der Traum jedes „Gedankenlesers“. Solche Umgehungen scheitern jedoch daran, daß zwischen Sinnesrezeptor und Kortex keine simple Signalübertragung stattfindet, sondern eine „hochkomplexe Signalbearbeitung“, teils auch Signalaufspaltung in parallele Verarbeitungswege mit unterschiedlichen und zeitlich versetzten Output-Konsequenzen.

Kortikale Prozesse formen den Sinnes­input daher schon auf den ersten Verarbeitungsstufen der Sinnesbahn so subtil, daß den primär sensorischen Kortex dann ein dem aktuellen Systemstatus differenziert angepaßtes Signal erreicht. Diese komplexen und flexiblen Prozesse technisch mit nur annähernder Qualität nachzubilden, hält Kurthen „auf längere Sicht“ für ausgeschlossen.

Wegen dieser haushohen Überlegenheit natürlicher Systeme verbleiben für einen effizienteren Input bisher eher bescheidene therapeutisch-technische Mittel. So nutzen weltweit 450.000 Patienten Cochlea-Implantate mit künstlichen Nachbildungen der Sinneszellen, die selbst tauben Patienten ein schwaches Hörerlebnis bescheren. Und mit noch weniger ausgereiften Retina-Implantaten strebt man an, die grobe Objekterkennung bei Blinden wiederherzustellen.

Motorische Steuerung für Gelähmte oder Amputierte

Vielversprechender als der Einsatz afferenter sind die „outputlastigen“ BMI. Den Input in solchen Systemen liefern nicht Sinnesorgane, sondern zerebrale Prozesse. Ihre motorische Steuerung erlernen etwa Gelähmte oder Amputierte über eine Art Neurofeedback. Sie bekommen dabei Informationen über ihr eigenes Elektroenzephalogramm (EEG) rückgemeldet, das rhythmische Spannungsschwankungen des Gehirns darstellt, und lernen die EEG-Wellen willentlich zu beeinflussen. Solche BMI lassen zerebrale Prozesse mit Hilfe des PC und unter Umgehung von Nerven und Muskeln in Handlungen wie die Bewegung des Roboterarms des gelähmten Patienten, in Cursorbewegungen oder sprachliche Signale übergehen. Aber darüber hinaus komplexere Gedanken und Bewegungen direkt über ein BMI zu realisieren, habe sich als äußerst schwierig erwiesen. Ebensowenig sei es bislang möglich, einen sprachlich verfaßten Gedanken klar aus Hirnströmen abzulesen, da die aktuelle Technik sich auf einem zu „rudimentären Zustand“ befinde, um die an der Kopfoberfläche abzuleitenden unspezifischen Hirnstromveränderungen als motorische Befehle oder Gedanken präzise auflösen zu können.

Ein anderer BMI-Einsatz zielt auf die Regulation emotionaler Zustände. Dabei werden die aus den Hirnzuständen herausgelesenen Korrelate von Erregung oder Frustration, Wachheit oder Aufmerksamkeit, dem seiner Affektzustände zumeist nicht bewußten Benutzer zurückgemeldet, um Verhaltenskorrekturen zu bewirken. Gerade hier, in der kreativen Erweiterung der natürlichen Systeme von Wahrnehmung, Denken und Handeln, liegt für Kuhrten die Zukunft des BMI – mit unabsehbaren Folgen. Frage es sich doch, ob noch jemand als Mensch zu bezeichnen wäre, dessen Erlebniswelt sich über seine fünf Sinne hinaus aus BMI-induzierten phänomenalen, handlungsrelevanten Wahrnehmungen von Infrarot, Ultraviolett oder von Magnetfeldern speise. Oder beginne hier die Entwicklung zum posthumanen, zum „rein funktionalen High-Tech-Tier jenseits allen Begehrens“?

„Tumult – Vierteljahresschrift für Konsensstörung“, 1/17:  www.tumult-magazine.net