© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Flüchtiges Glück zweier Gescheiterter
Literatur: Bodo Kirchhoff erzählt in „Widerfahrnis“ von nicht ausreichender Liebe und Mitmenschlichkeit
Felix Dirsch

Für seine Erzählung „Widerfahrnis“ erhielt Bodo Kirchhoff den Deutschen Buchpreis 2016. Wie in vielen bedeutenden Novellen wird darin dem Zufall eine große Rolle zugebilligt, der einen Umschlag in der Handlung herbeiführt. In einer Appartementanlage am Rande der Alpen treffen sich zwei gescheiterte Existenzen: Julius Reither, ehemaliger Verleger, ein Mittsechziger, der feststellen muß, daß es mehr Schreibende als Lesende gibt, was den Niedergang seines Geschäfts bewirkte, lernt die etwas jüngere Leonie Palm kennen. Sie hat ein Hutgeschäft besessen, das ebenfalls im Laufe der Zeit Kunden verloren hat. Es mangelte zusehends an Hutgesichtern, so ihre Einschätzung. Den Mißerfolgen im Leben der Protagonisten wird ausreichend Platz eingeräumt.

Begegnung mit einem Flüchtlingsmädchen

Als Palm an der Tür Reithers klingelt, werden beide kurz darauf in einen Sog an Ereignissen gezogen, die es in sich haben. Der Stillstand in ihrem Leben scheint vorbei zu sein. Sie beschließen spontan, eine längere Autofahrt nach Italien anzutreten. Die Reise bringt viele ihrer Wesenszüge zum Vorschein. Die Schilderung der schönen Landschaften im Süden wechselt sich mit tiefsinnigen Gesprächen über ihre Biographien ab. Man merkt, daß der Ex-Verleger über ein Erlebnis nicht hinwegkommt: Eine frühere Partnerin trennte sich von ihm, weil er das Ungeborene ablehnte, als er erfuhr, daß sie schwanger war. Ebenso macht seiner Gefährtin ein Vorfall zu schaffen: Ihr Kind ist bei der Geburt verstorben. Ihr Mann hat sie gleichfalls verlassen.

Angesichts solcher Erfahrungen dauert es ein wenig, bis sie einander näherkommen. Sie sind gebrannte Kinder und gestehen sich dies auch ein. Sie wollen lieben, aber es ist unklar, ob sie es schaffen, ob sie eine neue Chance bekommen. Das Leben hat doch einige Wunden hinterlassen.

Insofern ist das Sujet zeitlos. Die Geschichte ist freilich phasenweise in Gefahr, dahinzudümpeln. So aufregend, ein ganzes Buch mit den Dialogen der vor ihrem eigenen Leben Flüchtenden zu komponieren, sind die Gespräche auch wieder nicht. Es ereignet sich eine neue Wende. Die Urlauber kommen mit Flüchtlingen in Berührung. Auf dem Domplatz von Catania begegnen sie einem Mädchen, das wertlose Ware in der Hand hält und schäbig gekleidet ist. Es scheint Geld für ein wenig Essen auftreiben zu müssen. Wahrscheinlich stammt es aus Nordafrika. Das Kind spricht nicht. Man darf vermuten, daß es eines der zahlreichen unbegleiteten Flüchtlingskinder in der Region ist.

Das Kind begleitet die beiden. Es übernachtet im gleichen Zimmer, fährt im Wagen mit und ißt an ihrem Tisch. Man merkt schnell, daß die seBegegnung auch die beiden Erwachsenen nicht unverändert läßt. Leonie denkt an ihr verstorbenes Kind, Julius scheint seine frühere Unfähigkeit durch den Kopf zu gehen, für das bereits gezeugte Kind Verantwortung zu übernehmen. Läßt sich das jetzt alles nachholen?

Das scheint freilich eher ein Traum als Wirklichkeit. Sie kennen nicht einmal den Namen des Mädchens. Was soll mit ihm geschehen? Natürlich wollen sie die Gestrandete, die offenkundig Hilfe benötigt, nicht allein oder gar im Stich lassen. Was sie mit ihr anfangen sollen, ist aber keineswegs klar. Das Problem löst sich unspektakulär: In einem Hafen steigt sie auf ein Schiff. Reither wird in der Menge verletzt, ein Afrikaner verarztet ihn. Er beschließt, ihn und seine Familie mit nach Norden zu nehmen. Von Leonie wird er kurzzeitig getrennt. Als er sie nochmals trifft, stellt er sie vor die Wahl: mitfahren oder allein reisen. Sie entscheidet sich für letzteres, will auf den Besuch der Uffizien nicht verzichten. Das erstaunt zunächst. Aus einem Schreiben, das Reither von Leonie später erhält, geht hervor, daß sie nicht mehr lange Zeit hat, denn sie ist krank.

Zweifellos ist der Schluß besonders bewegend. Die, die ihr Glück zusammen am besten finden können, die im eigenen Interesse zusammenbleiben sollten, schaffen es nicht. Für Reither eine herzzerreißende Angelegenheit, für den Leser ebenso, der sich mit dem scheinbaren Paar durchaus identifizieren kann. Am Ende bleibt Leonie der Hut, der wohl den kahlen Kopf verdecken soll, er hingegen bekommt ihr Auto. Am Ende wird die Beziehung dramatisch, trotz der nur noch wenigen Worte, die gewechselt werden. Die Größe des Erzählers Kirchhoff blitzt spät, aber um so intensiver auf. 

Obwohl die Handlung in „Widerfahrnis“ relativ simpel gestrickt ist, geht die Erzählung unter die Haut. Ein Buch über den Hunger nach Nähe, nach Sehnsucht, nach Leben, nach Gelebthaben, Berührtwerden und Berühren, über unerfüllte, ja vielleicht unerfüllbare Wünsche. Ein Werk über den letzten Lebensabschnitt, über das, was versäumt und falsch gemacht wurde. Ein echter Kirchhoff, der die Lektüre lohnt!

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. Eine Novelle, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2016, gebunden, 224 Seiten, 21 Euro