© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Vom Roten Riesen zum Weißen Zwerg
Ende des Gutenberg-Zeitalters? Bücher werden nicht aussterben, aber zunehmend weiter an Bedeutung für den Informationsaustausch verlieren
Michael Klonovsky

Eine Epoche ist ein unermeßlich großer Zeitraum – allerdings nicht für den, der ihr Ende erlebt. Wir erleben derzeit das Ende jener Epoche, die Johannes Gutenberg begründet hat. Die Zeit des gedruckten Buches als Hauptmedium der Wissensspeicherung, der Unterhaltung und des geistigen Austauschs läuft ab. 

Diese Feststellung scheint zunächst völlig absurd angesichts der Tatsache, daß noch nie so viele Bücher gedruckt wurden wie heute. Aber der Höhepunkt ist überschritten. Eine beliebige Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zeigt, daß die meisten Passagiere mit Smartphone, iPad oder Laptop beschäftigt sind. Wer Gedrucktes auf Papier liest, hat meist eine Zeitschrift in der Hand. 

Nahezu jeder Buchverleger kann bestätigen, daß der Markt erschöpft ist. Die Auflagenzahlen gehen zurück. Die Vorschüsse an Debütanten werden kleiner. Verlage verschwinden, andere entlassen Mitarbeiter, wieder andere mieten keinen Stand mehr auf der Buchmesse, weil „es sich nicht rechnet“. Dieser Satz ist in die Branche eingedrungen wie ein Virus auf eine Festplatte. Vertreter, Agenten und Händler reden in einer Sprache miteinander, als handelten sie mit Mobiltelefonen oder Schrauben. Über die Qualität eines Buches entscheidet nur noch, „wie es sich verkauft“. Die Controller haben die Macht über die Literaturbranche übernommen. Diese Leute kennen nur ein Kriterium: Mehr!

Auf die Tatsache, daß sich die meisten Bücher schlecht verkaufen, reagieren die Verlage absurderweise mit der Produktion von immer mehr Büchern, von denen sich die meisten schlecht verkaufen. Gelingt einem Buchhaus ein Bestseller, ist das Pech, denn die Marketing-Guerilla wird gnadenlos fordern: Und nächstes Jahr verkaufen wir noch mehr!

Bevor ein Roter Riese zum Weißen Zwerg schrumpft, gibt es eine Supernova. Das ist der Zustand des Buchmarktes. Wem ein Gleichnis aus der humanen Sphäre lieber ist: In der Spätzeit des Alten Ägypten vervielfachte sich die Anzahl der verschiedenen Hieroglyphen explosionsartig. Immer neue dieser ehemals heiligen Zeichen tauchten in den Inschriften und Papyri auf, ausufernd kündigte diese Schrift ihr Aussterben an. Und wenn man sieht, wer heute alles schreibt, was alles zwischen zwei Buchdeckel gepreßt wird, wohnt sogar dem Gedanken ans Aussterben ein Zauber inne ...

Lehrbücher und Lexika werden verschwinden

Aber langsam, das Buch stirbt nicht aus, sondern verliert nur seine zentrale Stellung im Wortkosmos. Der Text als solcher wird nach wie vor die geistige Basis des Menschentums bilden, auch wenn durch das enorme Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt der Anteil der Sekundäranalphabeten an der Weltbevölkerung steigen dürfte. Es ist völlig normal, daß Medien und „Aufschreibesysteme“ (Friedrich Kittler) veralten und verdrängt werden. Es ist also auch völlig normal, daß die elektronischen Medien – in welchem Umfang auch immer – die gedruckten ersetzen. Wer das aus schöner Gewohnheit oder aus ästhetischen Gründen schlimm findet, wird zugeben müssen, daß die Verspargelung des Landes durch Windräder eine weit größere ästhetische Zumutung ist und doch kaum Widerstand hervorruft. Menschen neigen dazu, sich an jede ästhetische Zumutung anzupassen, wenn ihr Leben dadurch praktischer und komfortabler zu werden verspricht.

Das sogenannte Rieplsche Gesetz (siehe Infokasten) statuiert, daß kein Medium, welches einmal als etabliert und massentauglich galt, von einem neuen Medium vollständig verdrängt wird. Das Fernsehen hat das Kino nicht abgeschafft, der Hörfunk nicht die Zeitung, und auch das Buch wird den Computer überleben. In gewisser Weise sogar in ihm. Ist Musik als Konserve etwa keine Musik? Die Technik macht es möglich, daß man beispielsweise nicht nur im Südpatagonischen Eisfeld Bruckners Achte hören, sondern sogar aus den Live-Aufnahmen jene des London Symphony Orchestra unter Jascha Horenstein von 1970 auswählen kann. Ähnlich verhält es sich mit den Offerten des E-Books. Und die Vorstellung, eine ganze Bibliothek mit sich zu tragen, egal wohin man reist, ist ja durchaus reizvoll.

Welche Druckerzeugnisse genau werden verschwinden? Zunächst einmal Lehrbücher und Nachschlagewerke, die ihr Publikum auf elektronischem Wege besser erreichen und außerdem schneller zu aktualisieren sind. Die Lexikon-Verlage sind Dinosaurier. Das ist insofern schade, als alte Konversationslexika eben auch selber Konversation waren, während zum Beispiel in der Wikipedia so gut wie nie ein literarisch wertvoller Satz vorstellig wird. Aber – siehe Windräder.

Bereits so gut wie verschwunden sind das Manuskript, die handschriftliche Korrespondenz und damit ein erheblicher Teil dessen, was einmal der Autorennachlaß war. Sämtliche für Biographen relevante Personen hinterlassen ihre Spuren heute vorwiegend elektronisch. „Per twitter teilte X mit“ – das mag ein Standardsatz künftiger (im Netz für 5,99 Euro abrufbarer) Biographien werden. Und mal ehrlich: Den SMS-Wechsel zwischen Goethe und Schiller, wer würde den nicht gern lesen?

Bei Kinderbüchern und Büchern für kindische Erwachsene könnte die Elektronik das Rennen machen, weil sie den Kitzel der Interaktivität anbietet (es gibt zum Beispiel eine Edgar-Allan-Poe-App mit Geräuschen, der Möglichkeit, sich mit einer virtuellen Taschenlampe durch den Text zu leuchten etc.). Nicht verschwinden, aber erheblich verlieren dürfte das Taschenbuch durch die Etablierung immer reisetauglicherer Tablets, die sich dank der Beleuchtung auch besser für die Bettlektüre eignen. Was uns zum eigentlichen Buch führt.

Alte Bücher erzählen Geschichten von sich

In bildungsbürgerlichen Zeiten galt die Bibliothek bekanntlich als das geistige Aushängeschild des Hauses. Hier lagerten, ästhetisch befriedigend geordnet, die literarischen Werke aus Jahrtausenden. „Was für eine Herrlichkeit war bei uns zu Hause ein Buch!“ rief in einem Interview der Dichter Peter Handke. Was kann einen größeren zugleich sinnlichen und geistigen Genuß bieten als das Aufschlagen eines Buches? Beide Aspekte gehören zusammen, so wie man einen großen Bordeaux nicht aus einem Pappbecher trinkt. Gut gemachte Bücher sind bereits ein Fest für das Auge und die Hände. Alte Bücher erzählen Geschichten von sich wie alter Wein. Sie haben Runzeln bekommen, Gerüche aufgesogen, Besitzer gewechselt, die Bombennächte überlebt, auf Dachböden, in Kirchenkellern, in Antiquariaten still gewartet, bis jemand sie in die Hand nimmt und aufschlägt und in Verzückung gerät darüber, daß es sie überhaupt noch gibt. Dieser Menschenschlag wird niemals aussterben. 

Und während die Schlacken ins Netz abfließen, mag das Buch als Heimat aller mit Talent geschriebenen Literatur gereinigt überdauern.






Michael Klonovsky, Jahrgang 1962, ist Publizist und Schriftsteller. Am 12. April erscheint von ihm bei Manuscriptum „Schilda wird täglich bunter. Reaktionäres vom Tage“, eine Chronik des Jahres 2016.

 http://michael-klonovsky.de





Rieplsches Gesetz

Benannt nach dem deutschen Altphilologen und Chefredakteur der Nürnberger Zeitung Wolfgang Riepl. Er formulierte 1913 in seiner Dissertation als Grundsatz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, „daß die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden können, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen“.