© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/17 / 17. März 2017

Wächter an der Balkanpforte
Konrad Canis über eine fragile Macht Österreich-Ungarn: Die letzten fünfzig Jahre des Vielvölkerstaats
Eberhard Straub

Das Ausscheiden Österreichs aus der Gemeinschaft der deutschen Staaten nach seiner Niederlage gegen Preußen bei Königgrätz im Juli 1866 bedeutete keineswegs eine endgültige Trennung von Deutschland. Die Idee der deutschen Kulturnation und die Erinnerungen an eine lange gemeinsame Geschichte blieben weiterhin Kräfte, die auch politisch nicht unterschätzt werden durften. Den engeren Bund ohne Österreich – ab 1871 das Deutsche Reich – sollte deshalb ein erweiterter Bund mit Österreich, seit 1867 Österreich-Ungarn, ergänzen. 

Bismarck hätte diese besondere Verbindung gerne in beiden Reichen verfassungsmäßig verankert gesehen. Doch das verhinderten die beiden Kaiser. Sie hielten an der klassischen Idee fest, keine dauernden Allianzen und damit unberechenbare Verpflichtungen für die Zukunft einzugehen. Außerdem wollte Wilhelm I. unter keinen Umständen die ebenfalls sehr besonderen Beziehungen zu Rußland belasten. Im übrigen hätte keine spätere Regierung in Berlin oder Wien es je wagen können, die freundschaftliche Verbundenheit zwischen  dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn aufzukündigen. Insofern wirkte diese Allianz im Sinne Bismarcks wie ein Verfassungsgrundsatz. 

Dennoch wahrten beide Reiche bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts als Mitglieder des Europäischen Konzerts der Mächte ihre interessengeleitete Bewegungsfreiheit, nicht immer mit strenger Rücksicht auf den anderen. Von einer Nibelungentreue kann auf beiden Seiten nicht die Rede sein. Es gab genug Schwierigkeiten und Verstimmungen in dieser deutsch-österreichischen „Entente cordiale“ zwischen 1871 und 1914, wie Konrad Canis in seiner umfassenden Geschichte Österreichs im europäischen Mächtesystem schildert. 

Österreich-Ungarn war die einzige unter den fünf Großmächten, die keine weltpolitischen Ziele verfolgte. Diese Begrenzung entrückte es freilich nicht der Weltpolitik, weil die Weltmächte Rußland und Großbritannien seit dem frühen 20. Jahrhundert Europa in den Mittelpunkt der weltpolitischen Gegensätze rückten. Hier wurde über den Rang der Mächte und ihre Rolle in der Weltpolitik entschieden und über den Anspruch der Europäer, die globale Ordnung nach ihren Vorstellungen verändern zu können. 

Insofern wurde Österreich-Ungarn in die weltpolitischen Auseinandersetzungen hineingezogen. Sämtliche Mächte mischten sich immer energischer in die Wirren auf dem Balkan ein, der tastsächlich zum Nabel der Welt wurde. Noch jüngst völlig unbekannte Orte oder Landschaften in Albanien, im Kosovo oder in Montenegro zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, als würde dort das Schicksal der Welt entschieden. 

1914 war es dann tatsächlich soweit. Aus Balkanintrigen und provinziellem Eifersuchtsdramen entwickelte sich der Große Krieg, der Erste Weltkrieg. Nachdem Österreich aus Italien und Deutschland herausgedrängt worden war, blieb ihm ab 1866 nur der Balkan, um dort ein Hinterland für Großmachtpolitik zu gewinnen. Metternich hatte die Österreicher immer davor gewarnt, sich auf die trüben Geschichten im Balkan einzulassen. Am Ende des 19. Jahrhunderts war Österreich-Ungarn – spätestens seit der Ausdehnung des Machtbereiches nach Bosnien-Herzegowina nach 1878 – fast zum Teil des Balkan geworden. 

Den „Reichsdeutschen“ war es recht. Sie hielten sich als einzige unter den Europäern demonstrativ aus den orientalischen Unübersichtlichkeiten heraus. Sie begrüßten es, wenn sich die Österreicher dort unten beschäftigten und nicht etwa ausprobierten, ob nicht doch französisch-österreichische Gemeinsamkeiten zu überraschenden Aussichten führen könnten. Das einzige, worauf die Österreicher sorgsam achten mußten, war, die Russen nicht allzu forsch herauszufordern, die sich nicht zuletzt wegen Sankt Petersburgs enger Beziehung zu ihren „serbischen Brüdern“ auch als eine Balkanmacht verstanden. Die Deutschen wünschten es sogar, daß sich die Österreicher im Mittelmeer mit den Engländern und den Italienern im Mittelmeer arrangierten. 

Insgesamt funktionierte vorerst noch das Konzert der Mächte. Bündnisse waren vor 1900 recht unverbindliche  Übereinkünfte. Auch die Allianz der drei Kaiser begriff sich nicht als Block, sie beruhte auf dem Willen, miteinander von Fall zu Fall ein gemeinsames Vorgehen zu vereinbaren. Allerdings bemerkten die Österreicher schon kurz vor der Jahrhundertwende, daß Unfreundlichkeiten von Russen oder Engländern ihnen gegenüber eigentlich den Deutschen galten in der Absicht, die Österreicher davon zu überzeugen, wieviel vorteilhafter es für sie wäre, eine größere Distanz zu Deutschland zu suchen, diesem wirtschaftlich ungeheuer prosperierenden Störenfried ihrer und darum der allgemeinen Ruhe. 

Vor 1914 war das Verhältnis der Mittelmächte gespannt

Darauf ließen sich die Österreicher nicht ein. Nicht weil sie Deutsche waren oder die Ungarn in den Deutschen ihren Verbündeten bei den dauernden Zwisten mit den Österreichern suchten, sondern weil Russen, Franzosen, Briten ihnen auf dem Balkan oder im Mittelmeer nichts anbieten konnten, was sie zur Abkehr von dem insgesamt nützlichen Bündnis mit dem Deutschen Reich zu überreden vermochte. Das veranlaßte die britisch-französisch-russische Entente ab 1907 zu einer zunehmend gegen Österreich gerichteten Politik, um mit einem geschwächten, fast handlungsunfähigen Österreich-Ungarn die Stellung des Deutschen Reiches in Europa und der Welt zu erschüttern. Der Einkreisung des Deutschen Reiches entsprach eine Einkreisung Österreich-Ungarns auf dem Balkan.  

Die europäische Mitte sollte destabilisiert werden. Die Österreicher gaben sich allmählich keinen Illusionen über Russen oder Briten hin, wie sie die Deutschen beharrlich pflegten. Die Spannungen wuchsen zwischen den beiden Mittelmächten, die zur Zufriedenheit der Ententemächte schon vor 1914 mehr oder weniger zerstritten waren, aber sich nicht voneinander lösen konnten, weil eine Scheidung erst recht den Feinden bequem war. Die einzige Lösung blieb ein Balkankrieg oder der Große Krieg. Vor beidem schreckten die Deutschen zurück, das unwägbare Risiko nicht als Chance betrachtend, wie Russen, Engländer oder Franzosen und auch manche Österreicher. Einen Griff nach der Weltmacht planten die Deutschen nicht, die Österreicher ohnehin nicht, die nur als europäische Regionalmacht und als Reich überleben wollten. 

Das wirklich Riskante an der deutschen Bündnispolitik und ihrer europäischen Politik ab 1912 war nicht, wie Konrad Canis erläutert, ein imperialistischer Drang, sondern ein trostloser Dilettantismus von Regierenden, die im Banne haltloser Wünschbarkeiten der Welt und der Realität abhandengekommen waren. 

Konrad Canis: Die bedrängte Großmacht. Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866/67–1914. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016, gebunden, 567 Seiten, 68 Euro