© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Der Flaneur
Im Endspurt zur Tram
Paul Leonhard

Ein junger Mann biegt um die Ecke und schlendert heran. Ich registriere, daß er eine helle Trainingshose trägt und eine Winterjacke mit großer Kapuze. Einer unseren neuen „Mitbürger“, vermute ich, denn diese wurden offenbar standardmäßig mit derartigen Jacken in Grün und Blau ausgestattet. Plötzlich dreht sich der Mann um. Dabei muß er etwas gesehen haben, was ihn beunruhigt. Er beginnt die Straße entlang zu rennen, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Jetzt biegen drei deutsche Jugendliche, einer trägt eine Bomberjacke, um die Ecke.

Auch die drei anderen setzen keuchend zu einem Spurt an, hetzen dem Gejagten hinterher.

Auch sie fangen an zu laufen. Stürmen scheinbar hinter dem Migranten her, der inzwischen so nahe herangekommen ist, daß ich seine dunkle Hautfarbe und den kurzen schwarzen Bart erkennen kann. Der wirft einen weiteren Blick zurück und versucht noch einmal, sein Tempo zu steigern. Auch die drei anderen setzen keuchend zu einem Spurt an.

Lässig zieht eine Straßenbahn erst an der Gruppe, dann an dem einzelnen vorbei. Der Fahrer hält wie vorgeschrieben an der Haltestelle, die der Migrant gerade erreicht hat. Der drückt auf den Öffnungsknopf, steigt ein und setzt sich auf einen Einzelplatz am Fenster. Auch die anderen drei erreichen – nach Luft schnappend – mit knapper Not die Bahn. Sie sind so außer Atem, daß sie erst einmal stehenbleiben.

„Haben wir Schwein gehabt, daß wir die Bahn noch gekriegt haben“, sagt einer zu dem Dicken in der Bomberjacke. „Das hätte Ärger gegeben, wenn du schon wieder zu spät in die Berufsschule gekommen wärst.“ Der Angesprochene ächzt nur. Der Migrant hat sein Handy gezückt und telefoniert halblaut.

Während die Bahn die nächste Haltestelle ansteuert, zeigt einer der drei grinsend auf ein Werbeplakat, auf dem eine große Krankenkasse unter dem Motto „Die machen aus Sportmuffeln Sportfreunde“ für mehr Fitneß wirbt. Jemand hat mit schwarzem Stift an den Rand seinen Kommentar geschrieben: „Aber es tut weh!“