© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Papa war zwar in der Wehrmacht, aber er war doch kein Nazi
Gislinde Seyberts Edition der Briefe ihres Vaters, Obergefreiter an der Westfront von 1942 bis 1944, ist ein kulturgeschichtliches Dokument im doppelten Sinne
Jürgen W. Schmidt

Gislinde Seybert (Jahrgang 1936) war einst am Romanistischen Seminar der Universität Hannover tätig und ist als promovierte Literaturwissenschaftlerin durch Publikationen zu Kultur- und Geschlechterbeziehungen hervorgetreten. Die nunmehrige Veröffentlichung der Briefe ihres Vaters Paul Seybert ermöglicht es dem Leser, einen unverblümten Blick in das Alltagsleben eines unteren Wehrmachtsdienstgrades im besetzten Frankreich und Belgien zu werfen. 

Paul Seybert, ein selbständiger Kohlenhändler, ist 1942 schon längere Zeit Soldat bei der Flak. Natürlich verdrießt es ihn, einfacher Soldat zu sein, wenn er einen Menschen als Reserveoffizier und Batteriechef vor der Nase sitzen hat, der im Zivilleben nur „Tengelmann-Reisender“ für Kaffee gewesen ist. Auch sonst räumt er vielen Vorgesetzten keine sonderliche geistige Kompetenz ein, und manchmal kommt merklich der Neid durch, weil er gern an deren Stelle sitzen würde, aber als simpler Obergefreiter schon froh sein darf, dem Spieß auf der Schreibstube aushelfen zu dürfen. 

Der 35jährige ist froh, nicht an der Ostfront zu stehen

Eine große Bedeutung hat für ihn, wie wohl für jeden Soldaten in jeder Armee, die Verpflegungsfrage. Das Essen in der Wehrmacht ist gemäß seiner Briefe weder reichhaltig noch vitaminträchtig. Die 30 Mark, welche ihm sein Vater jeden Monat postalisch anweist, nutzt er deshalb, um sich auskömmlich zu ernähren. Dabei pflegt er zwecks guter Versorgung die Beziehungen zur Zivilbevölkerung. Politisch ist Obergefreiter Seybert antiplutokratisch eingestellt, wobei die „Plutokraten“ nur auf gegnerischer Seite vorhanden sind. Trotz allen Schimpfens über den anstrengenden Dienst ist der 35jährige Obergefreite sehr froh, nicht an der Ostfront zu stehen. Natürlich glaubt er fest an den einstigen deutschen Sieg, ist stolz auf seine persönlichen Schießleistungen mit dem Karabiner und gibt den Verwandten im heimischen Speyer fachmännische Anweisungen, wie man sich am besten vor den Auswirkungen des Bombenkriegs schützen könne. Als 1944 eine „Lightning“ direkt über der Stellung abgeschossen wird, ist Seybert empört, daß sich einige seiner Vorgesetzten Wertgegenstände des toten Piloten (Uhr, Ringe) aneignen und gar noch öffentlich tragen. 

Die Herausgeberin ist streng darauf erpicht herauszustellen, daß ihr Vater „kein Nazi“ gewesen sei. Als Obergefreiter Seybert beispielsweise seiner Ehefrau im Fall von Nachbarschaftsstreitigkeiten den Rat gibt, sich als Soldatenehefrau an die „Ortsgruppe der Partei“ und die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“  beschwerdeführend zu wenden, ist das für die Herausgeberin schlichtweg unverständlich, wie sie in einer Fußnote kundtut. Als die Flak-Batterie schließlich vom Reichsarbeitsdienst übernommen und mit Personal versehen wird, gehört der Obergefreite zum militärischen Stammpersonal, welches zu Ausbildungszwecken vor Ort verbleibt. 

Jetzt kommt Seybert geradezu ins Schwärmen über die gute, bislang nie erlebte Kameradschaft innerhalb der Einheit. Nicht mehr im Buch enthalten, allerdings von der Herausgeberin in der Einleitung auch nicht verschwiegen, ist die Desertion ihres Vaters. Mit einigen RAD-Männern setzte er sich von der Truppe ab, um sich bei den auf den Rhein vorstoßenden Amerikanern freiwillig in Gefangenschaft zu begeben. 

Das Buch stellt gleich ein doppeltes kulturgeschichtliches Dokument dar. Während die publizierten Briefe ungeschminkte Dokumente zum internen  Wehrmachtsleben darstellen, ist die Einleitung der Herausgeberin ein treffliches Dokument zum Deutschland des Jahres 2016. Ängstlich ersucht Gislinde Seybert allenthalben den Eindruck zu verwischen, ihr Vater könnte während der Kriegszeit von nationalsozialistischem Denken geleitet gewesen sein.

Gislinde Seybert (Hrsg.): Briefe eines Obergefreiten der Wehrmacht von der Westfront 1942–1944 an seine Eltern. Ludwigsfelder Verlagshaus, Ludwigsfelde 2016, broschiert, 78 Seiten, Abbildungen, 12 Euro