© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Lebensbeichte von der Bühne herab
Literatur: Der Schriftsteller David Grossman schildert Möglichkeiten des Umgangs mit Holocaust-Erfahrungen
Felix Dirsch

Der Schriftsteller David Grossman zieht schon seit geraumer Zeit das Lesepublikum weltweit an. Auch in Deutschland hat der israelische Literat einige hochrangige Preise erhalten, etwa den Geschwister-Scholl-Preis und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Sein jüngster  Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“ ist ein tragikomischer Text, der in der israelischen Provinzstadt Netanja spielt. Ein alternder Comedian, Dovele Grinstein, tritt nochmals, vielleicht ein letztes Mal, auf die Bühne und redet sich in einer Suada ohne Punkt und Komma seinen Kummer vom Leib, als müßte er jetzt noch etwas loswerden, da es bald zu spät ist. Der Kabarettist blättert seine Biographie von A bis Z auf. Er spricht viele Themen an, die sein Leben geprägt haben: Liebe, Scham, Kummer, Sexpraktiken, seelische Nöte, Unvermögen und die Nachwirkungen einer mißratenen Erziehung. Der Protagonist lädt zu diesem ultimativen Auftritt einen mit ihm befreundeten pensionierten Richter ein. Er soll sich wohl bereitfinden, ein Urteil über Dovele und seine Lebensbeichte abzugeben. 

Die Geschichte, die der Komiker von sich gibt, ist herzzerreißend, eine Mischung aus Amüsement, Bitterkeit, Betroffenheit, Hoffnungslosigkeit und Zynismus. Schwarzer Humor fehlt nicht. Das Publikum weiß nach einiger Zeit allerdings nicht, ob es lachen oder weinen soll. Gelegentlich verfällt auch mancher Besucher in Schockstarre. Nach und nach verlassen Menschen den Saal, weil sie das Vorgetragene nicht vertragen. Nur eine kleine Gruppe hält es aus.

Die Pointen und Slapsticks des Redeschwalls muten nicht zuletzt deshalb existentiell an, weil Dovele sie seit Jugendzeiten erprobt hat. Die Eltern des 57jährigen sind Holocaust-Überlebende. Seine verwitwete Mutter bedurfte stets der Aufmunterung. Um sie zum Lachen zu bringen, gewöhnte er sich bereits als Kind an, auf Händen zu laufen. Die depressiven Älteren aufzuheitern, wird zur Aufgabe seines Lebens. Jetzt im fortgeschrittenen Alter muß er seine eigene Laune bewahren, indem er sie zum besten gibt. Die Erzählung zeigt, wie sehr die Seelen der Shoa-Geschädigten und die ihrer Angehörigen auch Generationen nach dem Holocaust noch verwüstet sind.

Doch bei Dovele ist es wie bei allen Clownesken: Man weiß nicht, ob man seine Geschichten für bare Münze nehmen soll oder ob sie nur zur Steigerung der Laune vorgetragen werden. Humoreske und Wirklichkeit gehen oftmals durcheinander. Ernsthaftes in solchem Gewand vorzubringen, ist schwer. Schon Kierkegaard berichtet vom Clown, der die umherstehende Menschenmenge auf einen Brand in ihrem Rücken aufmerksam macht. Die Zuhörenden lachen, und sie lachen immer mehr, wenn der Warnende mit lauter werdender Stimme auf das drohende Unheil hinweist. Als sie den Realitätsgehalt der Botschaft wahrnehmen, ist es zu spät.

Der Ton des Romans ist sehr direkt, öfter vulgär. Die sexuellen Erfahrungen Grinsteins sind ebenso oberflächlich wie zahlreich. Es scheint wenig davon geblieben zu sein – außer Alimentationspflichten. Die teilweise genauen Schilderungen wirken redundant. Ob jedes Wortjonglieren und jedes Sprachspiel gelungen ist, sei dahingestellt. Bekanntermaßen ist es schwer, den hintergründigen Witz zu verschriftlichen, noch dazu in einer Übersetzung. Das Hin-und her-Springen des Erzählers zwischen der ersten und der dritten Person erleichtert das Verständnis der Handlung nicht.

Man erfährt viel über das Leben der Hauptfigur, aber auch einiges über Israel. Zudem wird der Leser mit etlichen jüdischen Personen konfrontiert, die schon seit langer Zeit vergessen sind, darunter der „Eisenkönig“ Siegmund Breitbart, Kommunistenführer Meir Vilner und der „jüdische Faschist“ Wladimir Jeev Jabotinsky. Dieses sporadische, häufig anekdotenreiche Eintauchen in jüdische Biographik und die Geschichte seines Heimatlandes dürfte bei Grossman, der auch als Friedensaktivist hervorgetreten ist, nicht zuletzt familiär-persönliche Gründe haben, ist doch einer seiner Söhne als Soldat gefallen.

Grossman hat eine emotional berührende Geschichte verfaßt. Aber er hat den Lesern zuviel zugemutet. An etlichen Stellen geht die Fabulierlust mit ihm durch. Zuweilen wird man vom Detailreichtum der Anspielungen förmlich erschlagen. Es bedarf schon einigen Durchhaltevermögens, um bis zum Ende der Erzählung dabeizubleiben. Leicht zu entschlüsseln ist hingegen die Intention des Romanciers: Er möchte mit gehöriger narrativer Intensität vermitteln, daß das physische Überleben des Holocausts nicht bedeutet, einfach ins Leben zurückzukehren und die einschneidende Zäsur gleich einem biographischen Detail sang- und klanglos hinter sich zu lassen.

Fazit: Die auch belletristische Literatur, die Verarbeitung von Holocaust-Erfahrungen in ihr Zentrum stellt, ist zahlreich. Selten jedoch hat sich ein Autor eine so aufwühlende Geschichte einfallen lassen, die seine Botschaft anschaulich verpackt.

David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016, gebunden, 252 Seiten, 19,90 Euro