© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Die Leviten gelesen
Ein „Who’s who“ der deutschen Staatsrechtslehre beklagt Rechtsbrüche infolge der Flüchtlingspolitik
Günter Bertram

Aus dieser Sammlung von Stimmen sechzehn fachkundiger Juristen spricht doppelter Protest: zunächst dagegen, daß die traditionsreiche und renommierte „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ auf ihrer 75. Tagung im Oktober 2015 nur abstrakte, professorale Erörterungen über die Verfassung angestellt hatte und es allein dem gastgebenden Speyerer Oberbürgermeister überließ, ein Wort zum brennenden, nicht zuletzt auch staatsrechtlich brisanten Flüchtlings- und Migrationsthema zu sagen. 

Allzu offensichtlich sind es schließlich die örtlichen Bürgermeister, auf deren Schultern ungelöste Probleme abgeladen werden, wie auch der Aufschrei des grünen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer „Die Nazis, die Flüchtlinge und ich“ (FAZ vom 24. Novemebr 2016) wieder zeigt. Deshalb fanden sich noch im Dezember 2015 die sechzehn Staatsrechtler zur Diskussion des ignorierten Themas zusammen, deren Resultate das angezeigte Buch versammelt. Schon dessen Untertitel „Zwischen gutem Willen und geltendem Recht“ signalisiert den rechtlichen und rechtspolitischen Einspruch auch in der Sache selbst.

Die Unterteilung des Stoffs zeigt bereits, was den Leser erwartet. „Flüchtiges Verfassungsrecht“, „Staatsverantwortung und Staatsrecht“, „Staat und Grenze“, „Migration und Menschenrechte“, „Verfassung und Integration“ – so die Oberthemen, zu denen dann jeweils mehrere Autoren ihre speziellen Beiträge leisten, etwa: „Das Romantische und die Notwendigkeit eines normativen Realismus“ (Frank Schorkopf), „Flüchtlingskrise als Ernstfall des menschenrechtlichen Universalismus“ (Otto Depenheuer), „Der entgrenzte Staat und die Menschenrechte“ (Christoph Grabenwarter), „Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze“ (Klaus Gärditz), „Nationalstaatlichkeit, Staatsvolk und Einwanderung“ (Dietrich Murswiek), „Grenzschutz im Migrationsrecht“ (Hans-Detlef Horn), „Flüchtlingsschutz oder Arbeitsmigration. Über die Notwendigkeit und die Konsequenzen einer Unterscheidung“ (Christian Hillgruber), „Flüchtlingsschutz und Europäische Menschenrechtskonvention“ (Katharina Pabel), „Abschiebung“ (Bernhard Kempen), „Menschenwürde: Rettungsinsel in der Flüchtlingsflut ? Zur Leistungsfähigkeit des Art I (1) Grundgesetz für die Rechtspraxis“ (Josef Isensee). 

Die erwähnten wie auch die hier nicht eigens genannten Aufsätze beleuchten ein Problem, welches eine Rechtsordnung zwar nicht zum Verschwinden bringen, zu dessen Bewältigung sie aber durch klare, entscheidungskräftige Normen beitragen kann. Indessen sind deren Gesetze und Richtlinien – deutsche wie europäische – oft nur verwaschen, allgemein und widersprüchlich, und sie werden überdies von den Behörden vielfach mißachtet und auch von der Rechtsprechung weiter aufgeweicht.  

Bei der Komplexität des Stoffs kann es nicht verwundern, daß die Autoren untereinander nicht immer einig sind. So begründen beispielsweise zur Frage der Integration zwei Autoren durchaus gegensätzliche Standpunkte, und Murswiek wird wegen seines Beitrags von einem Mitautor sehr unfreundlich angegriffen. So verläuft nun eben ein offener Diskurs. 

Moral stellt das Recht unter Rechtfertigungsdruck 

Um so bezeichnender ist es deshalb, daß das Deutschlandradio schon bei Erscheinen des anspruchsvollen Buchs der Öffentlichkeit in Windeseile dessen Totalverriß präsentierte: „Sie (die 16 Verfasser) sind alles andere als neutral, spiegeln vielmehr (...) das Denken von CSU- und heutigen AfD-Wählern wider.“ Der Kommentator kann sein Objekt allenfalls flüchtig durchblättert, muß dabei aber sofort richtig gewittert haben, daß hier ohne Rücksicht auf den öffentlichen Mainstream Befunde erhoben werden und nachgedacht und geschrieben wird – Grund genug, den Daumen zu senken und vor „rechtem Gedankengut“ zu warnen. Für den unabhängigen Leser hingegen ein Hinweis darauf, daß man ihm über entscheidende Fragen Eigenständiges bietet.

Unmöglich, das hier zu entfalten; dafür sind – wie immer wieder gezeigt wird – die dynamischen Entwicklungen und das Recht, das auf sie antworten muß, viel zu komplex. Aber ein Befund prägt fast alle Beiträge: Die hochgestimmte öffentliche Moral, ihr Pathos umfassender Inklusion („kein Mensch ist illegal“) mit ihrer unmittelbaren Berufung auf die Menschenwürde stellen jede Grenzsetzung, jeden Ausschluß, bereits jede Definition unter Verdacht und hohen Rechtfertigungsdruck. Die Angst nun, vor diesen unerfüllbaren Ansprüchen medienwirksam zu versagen (zumal sich schlimme Bilder vorwerfen lassen zu müssen), durchzieht und prägt die deutsche Flüchtlingspolitik und ihre Verwaltungen, die sich gleichwohl in der Praxis immer wieder gezwungen sehen, den „Vorbehalt des Möglichen“ gegen das Willkommenspathos der Kanzlerin und die „Karlsruher Schönwetterjudikatur“ (Josef Isensee über das BVerfG) doch noch irgendwie durchzusetzen. Der alte Konflikt also zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Die konkrete Brüchigkeit der letzteren zeigt sich hier besonders kraß darin, daß die nötgen Grenzsetzungen (nur diese?) nach außen – zur Türkei – verlagert werden. 

Humanität sei jedoch überhaupt nur in Grenzen möglich – in mehrfachem Sinne: Erstens müsse der Staat die Adressaten seiner Hilfe klar definieren (nach Flüchtlingen oder Migranten), zweitens könne er überhaupt nur Mögliches leisten, und schließlich könne nur ein Staat helfen, der sich in seinen Grenzen (auch wenn diese wie in der EU nach außen verlagert sind ) selbst erhalte und behaupte und nicht in die Menschheit verfließe und in ihr verschwinde. Grenzschutz, wie im europäischen Recht ausreichend deutlich definiert, sei die notwendige Regel, legitimierungsbedürftig also seine Durchbrechung.

Wer jenseits dessen, was die Zeitungen täglich berichten und das Fernsehen zeigt, über Staat und Recht in der Flüchtlingskrise tiefer dringen und dabei von Allgemeinplätzen verschont bleiben möchte, ist gut beraten, wenn er zum Depenheuer/Grabenwarter greift.

Otto Depenheuer, Christoph Grabenwarter (Hrsg.): Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht. Schöningh Verlag, Paderborn 2016, gebunden, 272 Seiten, 26,90 Euro