© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Gefährliche Teilchen
Weltraumschrott: Schon die Einschläge geringster Partikel vermögen es, einen Satelliten oder gar eine Raumfähre funktionsunfähig zu machen
Marc Zoellner

Plötzlich schrillten in Darmstadt die Alarmsignale: Mit rasender Geschwindigkeit, meldete das Swarm-Flugkontrollteam dem südhessischen Europäischen Raumflugkontrollzentrum (Esoc), nähere sich ein unkontrollierbares Flugobjekt dem Satelliten Swarm-B und drohe mit diesem zu kollidieren. Lediglich 39 Stunden, so drängten die Wissenschaftler der Europäischen Weltraumagentur (Esa), blieben noch Zeit, um den Kurs des gut 29 Millionen Euro teuren Satelliten, der seit 2013 mit seinen beiden Zwillingen in rund 500 Kilometern Höhe das Erdmagnetfeld untersucht, auf eine Ausweichumlaufbahn zu korrigieren und somit dem zerstörerischen Einschlag des Geschosses  noch einmal zu entgehen.

Ende Januar dieses Jahres war der Ernstfall eingetreten für die Darmstädter Bodenmannschaft und ihre Kollegen im Ausland. Das Pikante: Nur zweimal innerhalb der gegebenen Frist konnte der betroffene Satellit von Schweden aus kontaktiert, ihm neue Befehle übermittelt werden. Jeder Handgriff mußte sitzen; jeder Befehl in seiner Wirkung exakt vorausberechnet werden. Denn immerhin näherte sich das Flugobjekt dem Satelliten mit einer Geschwindigkeit von mehreren Kilometern in der Sekunde und könne, so ein Experte, „Swarm-B mit Leichtigkeit zerschmettern.“ 

Eine unglaubliche Sprengkraft für ein Teilchen von gerade einmal fünfzehn Zentimeter Durchmesser; für ein abgebrochenes kleines Bauelement des sowjetischen Satelliten Kosmos-375, der schon seit 1970 die Erde umkreist. Und eine ungeheuerliche Gefahr für jede bemannte Rakete und jede Raumstation, welche die Bahn dieses Geschosses zu kreuzen droht. Oder eines seiner unzähligen Geschwister.

Unendliche Weiten, so versprechen der Nachthimmel und die Phantasie es beim Blick auf die Sterne. Milliarden von Sonnen und Planeten, Hunderttausende von Galaxien und dazwischen nichts als das endlose, eiskalte Nichts des Weltalls. Doch der Schein trügt. Denn die Welt zwischen den Welten ist mitnichten leer; und daran hat zuletzt auch der Mensch seinen unrühmlichen Anteil. Besonders im näheren Umkreis der Erde häuft sich der Müll bereits wortwörtlich und wächst zu einer ernsthaften Bedrohung nicht nur für die Raumfahrt an, sondern auch für die zivile Forschung, für Kommunikations- und Navigationssysteme und somit für das alltägliche Leben hier unten auf der Erde.

Fast 60 Jahre sind vergangen, seit es den Sowjets im Oktober 1957 mit Sputnik 1 gelang, den ersten Himmelskörper ins Weltall zu befördern. In den folgenden sechs Jahrzehnten sollten fast 8.000 Missionen starten. Von Staaten und Gemeinschaften ebenso wie von privat finanzierter Seite. Die fieberhafte Reisetätigkeit des Menschen ins All, aber auch dessen strategischer Wert als Wirtschafts- und Kolonisationsraum sowie zur spezifischen Landesverteidigung blieben indes nicht ohne Folgen: Neben rund 1.100 derzeit betriebenen Forschungs- und Kommunikationsstationen – die als geheim eingestuften Überwachungs- und Killer-Satelliten nicht mit eingerechnet – sammelten sich im Laufe der Zeit kilotonnenweise verlorene Schrauben, Blech- und Glasscherben, abgesprengte Raketenbooster und nicht zuletzt der täglich anfallende Müll, welchen die Kosmo- und Astronauten schlicht im All zurückließen. „Es wird angenommen, daß sich eine geschätzte Anzahl von 700.000 Objekten, die größer als ein Zentimeter sind, und 170 Millionen Objekten größer als einen Millimeter im Erdorbit befinden“, informiert die Esa.

Glücklicherweise bleiben nicht alle davon dauerhaft im Weltall. Je niedriger die Flugbahn, so eine Faustregel, um so schneller treten die entsprechenden Geschosse auch zurück in die Erdatmosphäre ein, wo sie zumeist ohne spürbare Nebenwirkung verglühen. 

Pro Jahr geht durschnittlich ein Satellit verloren 

So wie im Falle des Projekts West Ford, bei welchem Wissenschaftler des  Cambridger MIT-Instituts im Mai 1963 mittels einer Trägerrakete über 480 Millionen kleiner Kupferzylinder gleichmäßig über dem gesamten Planeten verteilten, um die Funkverbindungen auf der Erde massiv zu verstärken. 

Das Unterfangen war zwar kurzzeitig von Erfolg gekrönt, galt durch die anhaltende technische Revolution jedoch alsbald als überholt. Und der Großteil der Kupfernadeln sank in den Folgejahren auf die Erde hinab, angezogen von der Schwerkraft des Planeten, um im stillen durch die Reibungshitze beim Wiedereintritt in die Atmosphäre zu verglühen.

Ein Schicksal, das nicht jeder künstliche Himmelskörper teilt: Allein von FY-1C, einem ehemaligen Wettersatelliten der Volksrepublik China, schwirren noch immer rund 150.000 Teilchen in der Schwerelosigkeit umher; davon mindestens 2.000 Bruchstücke mit einem Durchmesser von über fünf Zentimeter. 

Um im Rüstungswettrennen um das Weltall seine neuen Antisatellitenwaffen zu demonstrieren, hatte das Pekinger Verteidigungsministerium diesen Trabanten absichtlich unter Beschuß nehmen und zerstören lassen. Seine Trümmer, schätzen Beobachter von Nasa und Esa, werden die Erde noch über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte umkreisen.

Und somit auch eine potentielle Gefahrenquelle für eine Kettenreaktion weit größerer Dimension darstellen: Denn schon der Einschlag geringster Partikel vermag es, einen künstlichen Himmelskörper nicht nur funktionsunfähig zu machen, sondern – aufgrund der kinetischen Energie der bis zu 56.000 km/h schnellen Irrflügler – diesen geradezu in seine Einzelbestandteile zu defragmentieren. 

Eine Bedrohung, vor welcher der US-Astrophysiker Donald J. Kessler bereits 1978 warnte: „Da die Anzahl künstlicher Satelliten im Erdorbit anwächst, wächst ebenso die Wahrscheinlichkeit des Zusammenstoßes dieser Satelliten an“, mahnte der Nasa-Wissenschaftler in einem Forschungsbericht vom selben Jahr. „Diese Satellitenzusammenstöße werden (die Erde) umkreisende Bruchstücke erzeugen, von welchen jedes wiederum die Wahrscheinlichkeit künftiger Zusammenstöße erhöht, was zur Entwicklung eines aus Trümmern bestehenden Gürtels rund um die Erde führen wird.“

Das Kessler-Syndrom blieb nicht lange nur eine dunkle Utopie. Tatsächlich umgibt die Erde neben einer umschließenden Sphäre im tieferen Erdorbit bereits der Ansatz eines solchen Rings aus Weltraumschrott im höheren, dem sogenannten geosynchronen Orbit – bestehend aus dem Gros jener bereits erwähnten 170 Millionen im All hinterlassenen Müllteilchen. 

Durchschnittlich ein Satellit wird pro Jahr von diesen Trümmern zerstört; allerdings, und dies auch streng nach den Voraussagen Kesslers eintreffend, kontinuierlich steigend. Denn die Plätze im höheren Orbit sind bei Betreibern von Satellitensystemen aufgrund der Stabilität der Umlaufbahnen begehrt und somit rar. Schon jetzt wird es immer schwerer und erfordert immer höhere Rechenleistungen, um die Kurse der Erdtrabanten zu aktualisieren und aufeinander abzugleichen.

Das Kessler-Syndrom könnte indes zu einem Weltraum-GAU führen: Insbesondere der Umweltsatellit Envisat, zu welchem die Esa nach zehn Jahren Laufzeit im April 2012 den Kontakt verlor. Mit über acht Tonnen Gewicht war er der größte, mit 2,3 Milliarden Euro Entwicklungskosten ebenso der teuerste je von Menschen ins All geschossene Trabant. 

Rund zweimal im Jahr müssen andere Himmelskörper ihm ausweichen, und das noch für die kommenden 150 Jahre. Erst dann wird die Erdanziehungskraft auch Envisat aus der Bahn ziehen und endlich zum Verglühen bringen. Bis dahin stellt Envisat ein brisantes Bedrohungsszenario für die Raumfahrt dar – denn welche Auswirkungen es mit sich bringt, wenn zwei Satelliten miteinander kollidieren, ist den Wissenschaftlern an den internationalen Raumflughäfen noch hinreichend vom 10. Februar 2009 bekannt.

Damals prallten erstmalig zwei Satelliten aufeinander; namentlich der US-amerikanische Iridium 33 mit dem russischen Kosmos 2251, deren Bahnen sich über dem hohen Norden Sibiriens unbeabsichtigt gekreuzt hatten. Der Trümmerschweif der über 100.000 Teilchen, in welche sich die Satelliten aufgelöst hatten, erreichte binnen einer einzigen Stunde den Durchmesser der kompletten Antarktis. 

Für Frankreich und die USA war dieser Unfall der Warnschuß zum späten Handeln: beide Staaten beschlossen, nur noch die Inbetriebnahme jener Satelliten zu genehmigen, bei welchen vom jeweiligen Eigentümer gewährleistet werden kann, daß diese nach Beendigung ihrer Dienstzeit in eine weiter entfernte Umlaufbahn, den sogenannten Friedhofsorbit, abgeschoben werden. Ein Dutzend weiterer Nationen folgte im Anschluß diesem Beispiel.

Fortschritte bei der Schrottüberwachung

Wie dringlich es einer Lösung bedarf, um dem wachsenden Berg an Weltraummüll Herr zu werden, ist sich auch die Europäische Weltraumagentur bewußt: Denn immerhin sind mit der Errichtung einer wissenschaftlichen Basis auf dem Mond sowie der Landung der ersten Menschen auf dem Mars – und möglicherweise selbst der dauerhaften Besiedelung des roten Planeten durch den Menschen – für dieses Jahrhundert gleich zwei Meilensteine der Weltraumforschung geplant. 

Aus diesem Grund lädt die Esa die führenden Köpfe der weltweiten Raumfahrt vom 18. April an für vier Tage zur 7. Europäischen Konferenz zum Thema „Weltraumtrümmer“ nach Darmstadt ein. Von der präventiven Vermeidung zukünftigen Weltraummülls über supranationale Regulierungen und neue mathematische Modelle zur Flugbahnberechnung der Himmelskörper samt des bereits vorhandenen Mülls bis hin zu optischen und radarbetriebenen Methoden der Trümmergürtelüberwachung sind die Themen in diesem Jahr. 

Gerade hier sind die Europäer im internationalen Vergleich mittlerweile federführend tätig. Analog zum US-Space Surveillance Network (SSN) arbeitet die Esa seit 2009 an einem Space Situational Awareness (SSA) getauften Programm. Sprich: der Katalogisierung der durch das Weltall fliegenden bekannten Trümmer sowie der fortwährenden Überwachung ihrer Flugbahnen. 

Über 22.000 Objekte wurden seit Gründung des SSA bereits in den Datenbanken erfaßt – beinahe doppelt so viele wie von der Nasa. Die kleinsten hiervon haben gerade einmal fünf Zentimeter Durchmesser – und unter ihnen befand sich auch jenes Bauelement, welches Ende Januar beinahe mit dem Satelliten Swarm-B zusammengestoßen wäre.





Die neueste Raumpatrouille: Orion

Während die Tage der internationalen Raumstation ISS gezählt zu sein scheinen – als Ablaufdatum wird das Jahr 2020 genannt – arbeiten die Nasa und die Europäische Weltraumorganisation Esa am nächsten Objekt der bemannten Raumfahrt. Orion-MPCV (Multi-Purpose Crew Vehicle) soll mit Hilfe des in Bremen gebauten Europäischen Service-Moduls (ESM) fliegen, das auf dem Design des Versorgungsfahrzeugs ATV basiert. Dies sei das größte, modernste und weltweit leistungsfähigste Versorgungsschiff. Flug, Annäherung und Kopplung des Transporters an die Raumstation erfolgten völlig autonom. Dank der eigens entwickelten Hard- und Software fliege ATV so sicher, als wäre eine Crew an Bord, erklärt die Esa und unterstreicht:  „Bemerkenswert an diesem Deal ist, daß die Nasa erstmals die Lieferung missionskritischer Teile durch nichtamerikanische Partner zuläßt.“ Der erste unbemannte Testflug von Orion fand am 5. Dezember 2014 noch ohne ESM statt. Erst beim zweiten unbemannten Orion-Testflug Ende des Jahrzehnts wird das Service-Modul mit dabei sein. Bei dieser maximal zehntägigen Exploration Mission 1 (EM 1) soll Orion einen Punkt in der Nähe des Mondes, bei dem sich die Anziehungskräfte von Mond und Erde quasi aufheben, ansteuern. Dabei fliegt es nah am Mond vorbei, bevor es später wieder zur Erde zurückkehrt. Kurz vor dem Eintritt in die Erdatmosphäre trennt sich die Orion-Kapsel vom ESM, um zu wassern. Das ESM verglüht in der Erdatmosphäre. Sollte die Nasa die Option für ein zweites ESM wahrnehmen, dann soll die bemannte Exploration Mission 2 (EM 2) 2021/22 entweder zu einem Asteroiden oder zum Mond führen. „Mein Wunsch wäre“, so Esa Koordinator Thomas Reiter, daß sich unter der vierköpfigen Orion-Besatzung „ein europäischer Astronaut“ befinde.