© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Das Leben und nicht den Tod wählen
Mossul: Die IS-Herrschaft hinterließ vor allem bei Kindern tiefe Spuren, jetzt beginnt der beschwerliche Weg zurück ins zivile Leben
Marc Zoellner

Mossul ist befreit – zumindest zum Großteil. Zwar liefern sich irakische Militärs und paramilitärische bagdadtreue Truppen in einigen Bezirken der Westhälfte der zweitgrößten Stadt des Iraks noch immer heftige Gefechte mit verschanzten Anhängern des „Islamischen Staats“. Doch nach der strategisch bedeutsamen Ghiz­lani-Kaserne wurde vergangenes Wochenende endlich auch der Flughafen der Metropole zurückerobert. 

Schneller als erwartet – die Regierung in Bagdad hatte allein sechs Monate für die Befreiung Mossuls vom selbsternannten Kalifat veranschlagt –, rücken die Truppen, unterstützt durch US-Luftangriffe, in die letzten den Radikalislamisten verbliebenen Viertel vor.

Seit Tagen steigt dichter Rauch über der Stadt auf. Die Dschihadisten zünden auf ihrem Rückzug wahllos Häuser, Autos, Tankstellen und Gärten an. Nicht nur, um verbrannte Erde zu hinterlassen, sondern auch aus taktischen Gründen; denn die rußigen Schwaden verdecken den US-Kampfflugzeugen die Sicht auf deren Ziele am Boden. Doch im Osten des Tigris, an dessen beiden Ufern Mossul erbaut worden ist, legt sich der Rauch bereits wieder. 

Koranstudium und Training an der Waffe

Und während der Frieden in den Straßen Einzug hält, wird den Beobachtern dieser Gefechte erst wirklich deutlich, welche Barbarei die IS-Herrschaft in Mossul angerichtet hat: nicht nur an den historischen Denkmälern, sondern auch unter der Masse der seit gut zwei Jahren von den Radikalislamisten beherrschten Bürger der Stadt.

Nur Schutt ragt noch auf, wo sich einst die berühmte Jona-Moschee befand: das Grabmal des biblischen Propheten Jona, den einst ein Wal verschluckt haben soll. Von der heiligen Reliquie des Gotteshauses – ebenjenem Zahn des Wals – fehlt jegliche Spur. Sie wurde mutmaßlich geplündert und ins Ausland verkauft, um der Terrormiliz Devisen für Kriegswaffen einzuhandeln. 

Bereits im Juli 2014 hatte das Kalifat die Moschee gesprengt. Denn Heiligenverehrung wurde vom IS ebenso unter Androhung der Todesstrafe verboten wie ganz profane, alltägliche Handlungen: der Genuß von Tabak und Kaffee, das Fußballspielen, der Empfang von Radio und Fernsehen, selbst Singen und das Spielen von Musik.

Besonders hart traf der Fanatismus der Dschihadisten auch die Schulen. Sämtliche weltlichen Bildungseinrichtungen Mossuls wurden vom IS bei deren Einnahme der Tigris-Metropole geschlossen. Im Gegenzug gründeten die Extremisten religiöse Madrassen, um die Kinder nach den Lehren des Kalifats zu indoktrinieren. „Neben dem Studium des Koran“, berichtet ein Journalist des Economist aus dem befreiten Osten der Stadt, „wurden die Jungen dort an der Waffe trainiert, und die Mädchen taten kaum mehr als kochen und putzen.“

Vergangenen Monat wurden die ersten regulären Lehranstalten neueröffnet. Allerdings nicht ohne bleibende Gefahr. „Der IS hat angedroht, jede Schule anzugreifen, die wir wieder aufmachen“, berichtet Farid vom Freiwilligendienst Nahdat Jeel, der „wiedergeborenen Generation“, im Gespräch mit der Jordan Times. „Wir sind hier nicht sicher. Ihre Selbstmordattentäter können uns noch immer vom Westufer aus erreichen.“

Trotz alledem erfreuen sich die Schulen Ost-Mossuls seit der Ankunft der irakischen Armee regen Zustroms. Fußballspiele werden wieder auf den Sportplätzen organisiert, in den Klassenräumen selbst der Valentinstag gefeiert. Aus pädagogischen Gründen haben die Lehrkräfte ihre Klassen erstmalig gemischt strukturiert.

Kinder entradikalisieren und wiedereingliedern 

„Ein Fest abzuhalten, mit Mädchen und Jungs im selben Zimmer, mit Musik und einfach nur, um Spaß zu haben, das war vor wenigen Monaten noch undenkbar“, freut sich die 14jährige Nour über ihre neuen Schulbesuche.

Eine willkommene Gelegenheit, die allerdings nicht allen vorbehalten ist: Denn zeitgleich quellen auch die sogenannten „Reformzentren“ am nördlichen Rand der Stadt vor Neuankömmlingen förmlich über. Es sind staatliche Einrichtungen zur ideologischen Umerziehung von Kindern und Jugendlichen, die während der Kämpfe verhaftet oder auch nur in den IS-Madrassen aufgefunden worden sind. 

Mit Kursen in Kunst und Religion sollen sie hier, oft zu zwanzig in einem einzigen Schlafsaal, entradikalisiert und auf die Wiedereingliederung ins zivile Leben vorbereitet werden. „Wir ermuntern sie, das Leben und nicht den Tod zu wählen“, erklärt Zaki Saleh Moussa, einer der Institutsleiter. „Und es gibt tatsächlich Erfolge. Doch es sind noch viele weitere Anstrengungen nötig, denn die Zahl der Eingelieferten steigt täglich an.“