© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Der Löwe brüllt in der Provinz
Venetien: Der Kampf für die Unabhängigkeit von Italien ist vor allem im Frühjahr ein omnipräsentes Thema
Marco F. Hermann

Trommeln dröhnen zwischen den rosafarbenen Marmorsäulen der Veroneser Altstadt. Uniformträger mit Dreispitzen marschieren durch die Gassen, in Richtung der mittelalterlichen Scaliger-Festung. Das rot-goldene Banner mit dem Markuslöwen flattert voran. Die Stadt gedenkt in den Frühlingstagen der „Pasque veronesi“ (Veronesische Ostern). 

1797 brach in Verona ein Volksaufstand gegen Napoleon aus, ein letztes Aufbäumen der Republik Venedig. Die Rebellion wurde blutig niedergeschlagen. Einen Monat später standen französische Soldaten vor dem Dogenpalast. 

Am stärksten pulsiert das Vermächtnis der „Serenissima“ in der Region Venetien. Die Lagunenstadt ist bis heute Hauptstadt der Landschaft. Doch die Strömungen, die das Erbe der untergegangenen Markusrepublik wiederbeleben wollen, kommen nicht aus der sterbenden Stadt, deren Zentrum heute zum Touristenort verkommen ist. 

In der Provinz brüllt der Markuslöwe; jenes Wappentier, das im Mittelalter zwischen Orient und Okzident Herrschaft und Reichtum einer Seemacht symbolisierte, die Sarazenen und Türken das Fürchten lehrte. 

Auch die „Milizia Veneta“, die sich als historisches Regiment an der Wiederaufführung der „Pasque veronesi“ beteiligt, hat ihren Sitz im Dorf Fossò. Sie steht mit der venetischen Kulturassoziation „Raixe Venete“ (Venetische Wurzeln) in Verbindung. Beide Organisationen definieren sich nicht als Heimatverein, sondern als entschiedene  Bewahrer und Förderer venetischer Kultur. 

Neben Gedenk- und Informationsveranstaltungen zu wichtigen Ereignissen venetischer Geschichte – so der Schlacht von Lepanto oder der Annexion durch Italien – publiziert Raixe Venete Bücher und Comics in venetischer Sprache und richtet alljährlich die „Festa dei Veneti“ aus. 50.000 Menschen strömen zu diesem „Fest der Veneter“ ins ländliche Cittadella. 

Dazu gehören nicht nur Künstler und Wissenschaftler, sondern auch der Ministerpräsident der Region, Luca Zaia. Die derzeitige Regierung Venetiens stellt die regionalistische Lega Nord, die Organisationen unterstützt, die das venetische Erbe pflegen. Seit 2007 gilt Venetisch in der Region als zweite Amtssprache neben Italienisch. Ob Venetisch eine Sprache oder nur eine Dialektgruppe darstellt, gilt dabei unter Linguisten als strittig.

Raixe Venete pocht zwar darauf, eine rein kulturelle Vereinigung zu sein. Politisch vertritt sie jedoch die Sezession der italienischen Region. International arbeitet sie mit anderen europäischen Parteien zusammen, die regionalistische oder separatistische Bestrebungen auszeichnen.

Venetien gehört zu den größten Nettozahlern

Man pflegt Freundschaft mit Gleichgesinnten aus der Bretagne, Katalonien, Flandern, Schottland oder Südtirol. Im März 2014 unterstützten Raixe Venete sowie Zaia und die Lega Nord ein Referendum zur Unabhängigkeit Venetiens. Ein vorheriges „Onlinereferendum“ entschied für einen unabhängigen Staat. 

Beim Votum spielten mehrheitlich wirtschaftliche Gründe eine Rolle: Venetien gehört als Teil des reichen Nordens zu den größten Nettozahlern. Neben der Lega, die offiziell dem Separatismus abgeschworen hat, existieren zahlreiche politische Bewegungen und Parteien, die eine Wiedergeburt Venedigs zum Ziel haben. Ihre Propagandablätter beschimpfen die „Kolonisten“ aus Rom. Auf Demonstrationen werden die Italiener zu ausländischen „Tajani“ herabgewürdigt. 

Die Sezessionisten lehnen die Annexion von 1866 als „grande truffa“ (großen Betrug) ab und richten die Parole „Veneto is not Italy“ an die Welt. Ab dem 5. März findet ein Staffellauf vom Gardasee bis zur Lagune statt, der an die Gründung Venedigs erinnert. Dann flattert der Markuslöwe wieder voran – so wie zuletzt vor 220 Jahren.