© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Von Luther weit entfernt
Planschen im lauwarmen Wasser des Zeitgeistes: Im Jahr des Reformationsjubiläums ist so undeutlich wie nie, für was die EKD eigentlich steht
Gernot Facius

L-U-T-H-E-R – Wer ist Luther?“ Immer wieder die gleichen Rufe der Sänger des Pop-Oratoriums „Luther“ in der ausverkauften Mannheimer SAP-Arena. Ja, wer ist er denn, der Reformator? Der „Selberdenker“, wie er in einem Lied gepriesen wurde? „Ich will selber denken, um gewiß zu sein, was gut und richtig ist.“

Ist das die ganze Botschaft? Hat nicht Luther in seinem „Kleinen Katechismus“ geschrieben: „Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus glauben kann (...), sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet.“

An dem Exempel aus Mannheim läßt sich die ganze Not studieren, die Luthers Kirche mit ihrem Gründervater im großen Reformationsgedenkjahr hat. Für was muß der ehemalige Augustinermönch nicht alles herhalten: für Luther-Bonbons, Luther-Kekse, Luther-Socken, ja, es gibt ihn auch als Räuchermännchen. Dreieinhalb Meter hoch zierte der Wittenberger, den Hammer für den Thesenanschlag in der einen, einen Hirtenstab in der anderen Hand, einen Motivwagen des Mainzer Rosenmontagszuges. In einem Korb „Weck, Wurscht und Woi“ (Brötchen, Wurst und Wein). „Populismus“, der sonst so verachtete, pur. Wohlfühlprotestantismus, der ablenken soll vom innerkirchlichen Streit. Man echauffiert sich – durchaus zu Recht – über Luthers „dunkle Seiten“, seine judenfeindlichen Schriften („eine schwere Hypothek“), planscht jedoch im übrigen im lauwarmen Wasser des Zeitgeistes. Wer nicht mit in diese Brühe steigt, den trifft der Zorn der EKD-Granden.

Beispiel „Flüchtlingskrise“. Wer seine Vorbehalte gegen eine ausufernde „Willkommenskultur“ laut äußert, wird, wie die AfD, von Kirchentagen ausgeladen. Der Berliner Bischof Markus Dröge hatte keine Skrupel, Widerstand gegen die AfD zur Christenpflicht zu erklären. Dieser Aufruf gilt einer Partei, die sich entschiedener als andere, als SPD, FDP und Grüne (die selbstverständlich bei EKD-Veranstaltungen gern gesehen sind) auch für den Schutz des ungeborenen Lebens einsetzt, dem Gender-Irrsinn entgegentritt und sich zur Ehe als einer Verbindung von Mann und Frau bekennt. Beim Thema illegale Migration tritt sie politischen Konkurrenten und Kirchenoberen allerdings kräftig auf die Füße, und deshalb wird sie von den Hohepriestern der Politischen Korrektheit in die Ecke gestellt.

„Deutliche Spannung zu dialogischen Ansätzen“

Die AfD-Bundessprecherin Frauke Petry hat zu Jahresbeginn in einem Streitgespräch mit dem rheinischen Präses Manfred Rekowski in der evangelischen Zeitschrift ideaSpektrum den Kirchen vorgehalten: „Wer für unsere Situation das Gleichnis vom barmherzigen Samariter heranzieht, vergewaltigt biblisches Wissen.“ Der Kirche gehe das Bewußtsein verloren, daß Barmherzigkeit und Toleranz gegenüber Fremden nur möglich seien, wenn der Rechtsstaat noch funktioniere. „Wir erleben derzeit, daß die Kirche christliche Grundsätze beliebig macht.“ Und: „Die Kirche tut so, als wäre das Gedankengut des Islams vereinbar mit dem, was wir in der Kirche leben. Das ist es für mich nicht. Ich erwarte von der Kirche dazu eine klare Position.“

Die wird es wohl so schnell nicht geben, zeigt sich doch gerade in der Islam-Debatte, wie weit sich die EKD von Luther entfernt hat. Seine Haltung gegenüber dem Islam sei aus heutiger Sicht vielfach polemisch und einseitig, sie müsse deshalb neu bestimmt werden, verlangte ein EKD-Papier „Reformation und Islam“ von Mai 2016. Sie stehe „in einer deutlichen Spannung zu gegenwärtigen dialogischen Ansätzen, die dem Selbstverständnis und der Eigenständigkeit des muslimischen Glaubenszeugnisses Respekt entgegenbringen möchten“.

Der Reformator hatte starke Reden gegen den Islam geführt („eine schändliche Ketzerei“). Der Koran sei voller Fabeln und Lügen. In diesem Buch möge vieles zunächst nach christlicher Lehre klingen, doch fehle alles, was wichtig sei, oder es werde grotesk verzerrt: die Lehre von Jesus Christus, vom Sohn Gottes, von der Dreifaltigkeit (Vater, Sohn und Heiliger Geist), von der Sünde, vom Kreuz, von der Auferstehung, von der Vergebung allein aus Gnade.

So weit die glasklare Position des Reformators. Seine geistlichen Erben haben damit ihre Schwierigkeiten. Islam und Christentum, so eine gängige Redensart, seien „Geschwister, die sich näher sind, als ihnen oft bewußt und auch lieb ist“ (Martin Hein, Bischof von Kurhessen-Waldeck). Das erklärt, warum so mancher protestantische Würdenträger nichts dabei findet, für multireligiöse Feiern zu plädieren. Immerhin, der zu einigen Kompromissen bereite EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm (jener Landesbischof, der bei einem Besuch des Jerusalemer Tempelberges das Brustkreuz abgenommen hatte) warnt vor einem gemeinsamen Gebet von Christen und Muslimen: „Weil wir Unterschiede im Glauben nicht einfach zur Seite wischen wollen (...) Ich kann als Christ nicht einfach darüber hinweggehen, wenn man mir ganz ausdrücklich sagt: ‘Christus kann nicht der Sohn Gottes sein.’“ Bedford-Strohm spricht lieber von einem „multireligiösen Gebet“. Ob eine solche semantische Unterscheidung für Klarheit sorgt? Jedenfalls will der Ratsvorsitzende seine Haltung nicht als Abwertung anderer Religionen verstanden wissen. Er tritt gerade dafür ein, die eigene Identität „nicht aus der Abgrenzung heraus zu definieren“.

Maßstäbe sind ins Rutschen gekommen

Wolfgang Huber, einer der Amtsvorgänger von Bedford-Strohm, hat stets davor gewarnt, die Unterschiede zwischen Christentum und Islam zu verdunkeln: „Wir haben als Christen keinen Grund zu sagen, wir würden uns zum gleichen Gott wie die Muslime bekennen.“ In Hubers Amtszeit war 2006 die „Handreichung“ des Rates der EKD („Klarheit und gute Nachbarschaft“) entstanden. Unmißverständlich wurde darin klargestellt, daß das interreligiöse Beten aus theologischen Gründen nicht in Frage komme. Auch jegliches Mißverständnis, es finde ein gemeinsames Gebet statt, sei zu vermeiden: „Ihr Herz werden Christen schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und wie ihn Muslime verehren.“ Huber nahm auch in der Kopftuch-Debatte eine andere Position ein als andere Repräsentanten seiner Kirche: Dieses Kleidungsstück begründe Zweifel an der Eignung einer Bewerberin für den öffentlichen Dienst und den Lehrerberuf. Warum? Das Kopftuch sei zwar ein religiöses Zeichen, symbolisiere aber auch eine Haltung im Verhältnis der Geschlechter, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei.

Heute rückt Hubers Kirche (und die katholische) immer mehr von dieser Position ab. Ein Beispiel: Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hatte im Februar einer muslimischen Lehrerin eine Entschädigung zugesprochen, weil sie als Kopftuchträgern nicht an einer Grundschule unterrichten durfte. Beide Großkirchen begrüßten das Urteil, nannten es ein „gutes Zeichen, daß staatliche Neutralität und persönliche Überzeugung“ sich nicht ausschlössen. Der Islamwissenschaftler Carsten Polanz von der evangelikal geprägten Freien Theologischen Hochschule Gießen widerspricht heftig: Das Kopftuch sei „eben kein religiöses Symbol, sondern auch fester Bestandteil des klassischen Scharia-Rechts, in dem eine rechtliche Diskriminierung der Frau festgeschrieben ist“.

Doch das scheint die Kirchenleute, die sich in gesellschaftspolitischen Fragen gern als Gleichheitsapostel gerieren, nicht zu stören. Sie sind ohnehin seit langem auf dem Trip zur Politreligion. Es ist nicht nur Polemik, wenn journalistische Beobachter klagen, die EKD-Verantwortlichen glaubten mehr an den Klimawandel als an Jesus Christus. Bischof Gerhard Ulrich (Schwerin) von der evangelischen Nordkirche forderte kürzlich, „Klimaflüchtlingen“ den vollen Schutz des Asylrechts zuzugestehen: „Wir müssen den Begriff des anerkannten Flüchtlings unbedingt erweitern.“ Die Linke und die Grünen klatschten Beifall.

Seit Jahrzehnten ist auf den Synoden von der Notwendigkeit einer „missionarischen Kirche“ die Rede, doch die Diskussionen laufen meist ins Leere. Man tut sich schwer, „Mission“ aktuell zu buchstabieren. Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Manfred Kock hat die Fehlentwicklungen auf der Synode 1998 in Münster präzise beschrieben: „Wir trauen der biblischen Botschaft nicht zu, die Ohren und Herzen unserer Zeitgenossen zu erreichen und stürzen uns deshalb auf die aktuellen Fragen und Themen.“ Wo Kirche sich zu öffentlichen Fragen äußere, müsse der Bezug zur Gottesfrage erkennbar sein.

„Christen wünschen sich geistliche Ausrichtung“

Doch es bringt immer mehr Christen ins Grübeln, ob Einlassungen etwa zu Details der Energiewende oder des Mindestlohns notwendig sind. Natürlich habe die Kirche die Aufgabe, sich bei Wertefragen klar zu positionieren, sagte der Synodale der bayerischen Landeskirche Markus Söder (CSU) vor kurzem im ideaSpektrum-Interview. Insofern wirke sie auch politisch. Je mehr die Kirche allerdings als Kombattant in der politischen Meinungsbildung wahrgenommen wird, desto mehr wächst das Risiko, daß sie zur „Ersatzpartei“ wird, wie Söder warnt. „Die Mehrzahl der Christen wünscht sich von ihrer Kirche nicht Parteipolitik, sondern eine geistliche Ausrichtung. Warum ist in Buchläden die Nachfrage nach Esoterik so groß? Weil es ein Bedürfnis nach Spiritualität gibt. Die Aufgabe der Kirche ist es, dies mit der Botschaft des christlichen Glaubens zu füllen.“ Wer wollte ihm da widersprechen? „Ich bete, daß die Zahl der Entschiedenen und Getreuen wachse, damit, wenn die Volkskirche zerfällt, die neue Bekennende Kirche bereitstehe“, predigte der legendäre Berliner Nachkriegsbischof Otto Dibelius. Ein offenbar zeitlos gültiger Satz.

Foto: EKD-Papier „Reformation und Islam“ (l.), die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt mit der Reformationsbotschafterin der EKD, Margot Käßmann (M.), der Berliner Bischof Markus Dröge (r.); Luther-Bonbon der Lutherischen Verlagsgesellschaft: Wenig geistliche Zurüstung, dagegen viel Aktionistisches zur politischen Meinungsbildung