© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/17 / 24. Februar 2017

Sommertage wie im Drehbuch
Oliver Hilmes entwirft ein facettenreiches Mosaik über die Olympischen Spiele von 1936
Wulf-H. Möller


Etwas mehr als zwei Wochen standen die Olympischen Spiele 1936 im Fokus der Welt, „Sechzehn Tage im August“ ist deshalb der Untertitel des Buches „Berlin 1936“ von Oliver Hilmes. Vom Wetterbericht über die Meldung der Staatspolizeistelle Berlin und einer Vielzahl Quellen beschreibt er tagebuchartig einen Sommer der Widersprüche, und in diese Welt steigt der Autor Oliver Hilmes sogleich ein, wenn er das pulsierende Geschehen der damaligen Weltstadt Berlin und andererseits die Lenkungseinflüsse der NS-Politik schildert. Vom Hotel Adlon ist die Rede, ebenso vom Café Bristol und vom Pariser Platz, von den „Weckrufen mit Marschmusik und Schlagern“ und sogar vom Jazz. „Ehrerbietungen der Nationalsozialisten an das IOC“, so der Autor.


Doch zurück: Wer in jenem Sommer nach Berlin reiste, erlebte die deutsche Hauptstadt als weltoffene Metropole. Beeindruckende Fahnenspaliere, Autorenabende des Rowohlt Verlages, an den Bäumen am Kurfürstendamm Lautsprecher zum Mithören der sportlichen Wettkämpfe. Aber auf diese Weise erfährt der Leser auch wie Goebbels „Regie führte“ und gleichzeitig, daß seine Frau Magda einen jüdischen Vater hatte und folglich in „politische Turbulenzen“ geriet. Und man erfährt weiter, daß der Nobelpreisträger Thomas Mann „selbst den Spaziergang mit Frau Katja bei der ‘Treibhausluft’ nicht genießen kann. Oft verbringt er in Küssnacht bei Zürich Stunden des Tages vor seinem Radio“.


Oliver Hilmes studierte in Marburg Geschichte, Politik und Psychologie, wurde in Zeitgeschichte promoviert und arbeitet seit 2002 für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Für sein Buch wählte er nicht die gängige Form des Zeitraffers. Er vernetzte die Darstellung vielmehr immer wieder in Zeitachsen mit lesenswerten historischen, sozialen, politischen oder ganz persönlichen Hintergründen, losgelöst von den eigentlichen Spielen im Sommer 1936.
Dadurch wurde die Geschichte des „Sportfestes der Völker“ gleichzeitig ein hervorragendes Geschichtswerk der Zeit, ein Kaleidoskop literarischer, sozialer und politischer Stimmungen. Etwa, wenn der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe seine Begeisterung für das sportliche Ereignis und für Berlin dokumentiert oder wenn er über die zahllosen Besuche in mondänen Bars und Hotels berichtet, in die der „Apparat der Nationalsozialisten nicht hat vordringen können“! Auf die Frage, wie ihm Deutschland gefalle? Seine Antwort: „Wunderbar! Ein magisches Land. Ich kenne Hildesheim, Nürnberg und München, die Architekturen, den Glanz der Geschichte und Kunst.“
Dann ist von Teddy Stauffer und seinen legendären „Original Teddies“ die Rede, wenn sie auf der Dachterrasse des Eden-Hotels spielen. Wir hören, daß es zwischen Leni Riefenstahl und Goebbels zu lautstarken Auseinandersetzungen kam. „Zusammengestaucht“ soll er sie haben, doch Leni habe „zurückgebrüllt!“ Leni Riefenstahl, Regisseurin war sie damals, „eine Art Hollywoodstar, ein Idol: Graue Flanellhose, modischer Blazer und Jockeymütze –„Einfach schick!“  so der Autor.


Und der Autor beobachtet, wenn „täglich zwischen 15 Uhr und 15.10 Uhr Hitlers Gäste die Reichskanzlei in Richtung Olympiastadion verließen. wenn die Wagenkolonnen in die elf Kilometer lange Feststraße zwischen Lustgarten und Stadion einbogen“, wobei die gesamte Wegstrecke von überdimensionalen Hakenkreuz- und Olympiafahnen gesäumt und von 40.000 SA-Männern gesichert wurde.


Die NS-Propaganda  arbeitete perfekt


Und wir erfahren auch andere vom Autor im Berliner Lokal-Anzeiger „aufgespürte“ Details: „Olympia-Besucherin aus Dänemark, Dreißigerin, Witwe, mittelgroß, schick, schönes Heim, sucht Heirat mit weltmännischem Mann gleichen Alters, in Berlin ansässig; nur ernstgemeinte private Antworten erwünscht.“ Für die meisten Deutschen waren die Olympischen Spiele ein herausragendes Erlebnis; viele fuhren nach Berlin, um dabei zu sein. „Der junge Axel Springer war dabei“, auch Zarah Leander, Rosita Serrano und Carl Diem werden erwähnt – Henri Nannen als Stadionsprecher wird zwar nicht erwähnt, aber er war dabei –alles Namen, die wir kennen!


„Und die Sportereignisse flimmerten übrigens  mit einer Zeitverzögerung von 85 Sekunden über die Mattscheiben in die öffentlichen Fernsehstuben von Berlin, Potsdam und Leipzig – und das dreimal täglich“! Der Leser erfährt weiter, „wie Ribbentrop zu seinem Adelstitel kam, daß er nur ungern als Botschafter nach London ging und im Olympischen Dorf werden der Atlantikflieger Charles Lindbergh, der Boxer Max Schmeling und der Tenor Jan Kiepura zu Gast sein“.


Dann immer wieder Verweise auf das Doppelgesicht des Staates, auf bedrohende Aktionen aus den politischen Ereignissen der Monate davor und danach: der Einmarsch ins Rheinland, der Austritt aus dem Völkerbund, die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Aufstockung des Heeres auf 500.000 Mann. Und die NS-Propaganda arbeitete offensichtlich so perfekt, daß man „unbemerkt“ ein Konzentrationslager errichten konnte. „Und das alles zwanzig Kilometer vom Berliner Stadtrand entfernt …“


Was bleibt? Dem Autor Oliver Hilmes ist ein Mosaik gelungen, das Facetten jener Tage beleuchtet und den Leser immer wieder mitnimmt in die Welt der Olympischen Spiele, der Medien, der Politik und Propaganda, aber auch der Nachtschwärmer und Showstars jener Zeit. Eine Welt des Erfolgs und eine  der Täuschung. Mit einer Vielzahl von Informationen, Anekdoten, Polizeimeldungen, porträtiert der Autor zwei Gesichter. Mit den Olympischen Spielen in Berlin zeigte Hitler für wenige Wochen sein vermeintlich freundliches Gesicht.


In spürbarer Intimität folgt der Autor den Menschen. Wie es in der Ankündigung des Buches heißt: „Es sind Geschichten von Opfern und Tätern“, von begeisterten Besuchern, von politisch Betroffenen und jubelnden Zuschauern. Es ist die Geschichte eines aufregenden Sommers.




Foto: US-Olympiamannschaft 1936 am Berliner Rathaus: Begeistert vom weltstädtischen Glanz



Oliver Hilmes: Berlin 1936. Sechzehn Tage im August. Siedler Verlag, München 2016, gebunden, 200 Seiten, Abbildungen,19,99  Euro