© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

Die klassische Glotze gerät ins Hintertreffen
Filme, Serien, Dokumentationen zeitlich flexibel: Videodienstanbieter wie Netflix, Amazon oder Maxdome liefern für die Hälfte des GEZ-Beitrags kundenorientiert und ohne Sozialpädagogik
Ronald Berthold

Die Fernsehgewohnheiten in Deutschland ändern sich radikal. Rund 43 Prozent aller Internet-Nutzer haben inzwischen ein Abonnement bei einem Streaming-Portal wie Netflix oder Amazon Prime Video abgeschlossen. Das sind rund 24 Millionen Menschen ab 14 Jahren. Die meisten von ihnen verabschieden sich vom traditionellen TV-Programm, das ihnen ARD, ZDF, RTL, Sat.1 und andere bieten. Damit wird auch zunehmend der Rundfunkbeitrag fragwürdig, mit dem die Deutschen jährlich acht Milliarden Euro an die Öffentlich-Rechtlichen zahlen.

Die Preise aller Anbieter liegen unter zehn Euro

Allein in den vergangenen beiden Jahren hat sich die Zahl der Kunden, die für Video-on-Demand (VoD) bezahlen, um 100 Prozent erhöht. Bis 2021 sollen sich die Umsätze erneut auf dann gut eine Milliarde Euro verdoppeln, schätzt der Geschäftsführer des Marktforschungsinstituts Goldmedia, André Wiegand. Das Unternehmen hat auch die Zahlen über die Streamingdienst-Nutzer erhoben. Denn um die tatsächliche Größenordnung ihrer Kunden machen die Anbieter noch ein Geheimnis. Zwar meldete Netflix im Januar weltweit 93,8 Millionen Abonnenten. Eine Aufschlüsselung auf die einzelnen Länder, also auch Deutschland, fehlte aber.

Spitzenreiter bei den Marktanteilen ist laut Goldmedia Amazon Prime mit 32 Prozent vor Netflix mit 17. Es folgen Sky (12), Maxdome (11), Google Play (10) und iTunes (8). Mehrfachnennungen waren möglich. In der Tat haben etliche Kunden sowohl bei Amazon als auch bei Netflix ein Abo abgeschlossen. Der große Vorsprung von Amazon dürfte sich auch daraus erklären, daß jeder, der seine Waren-Bestellung am nächsten Tag haben möchte und daher einen Prime-Vertrag abschließt, automatisch auch das Film- und Serienangebot erhält.

Die Preise aller Anbieter liegen deutlich unter zehn Euro. Amazon verlangt im Monat 8,99 Euro, Netflix ohne HD und Maxdome jeweils 7,99 Euro. Zum Vergleich: Der Rundfunkbeitrag liegt bei 17,50 Euro, also gut doppelt so hoch. Der Siegeszug der VoD-Unternehmen ist um so bemerkenswerter, als daß zum Beispiel Netflix, das mit der Eigenproduktions-Serie „House of Cards“ mit Kevin Spacey einen riesigen Erfolg landete, erst seit September 2014 in Deutschland auf dem Markt ist.

Vor allem die nachwachsende Generation zeigt dem klassischen Fernsehen inzwischen die kalte Schulter. Schauten jüngere Leute zunächst vorwiegend YouTube, so wenden sie sich nun den Streamingportalen zu: „Wie unsere Analysen zeigen, wird die zunehmende Verbreitung von VoD insbesondere durch junge Nutzer unter 30 Jahren getrieben – und diese bevorzugen ganz klar Abos“, sagt Wiegand.

Die Vorteile liegen klar auf der Hand: für wenig Geld Filme und Serien dann sehen, wann man es möchte. Niemand braucht auf die nächste Woche zu warten, in der – wie früher – ein Sender die nächste Folge ausstrahlte. Wer will, kann einen ganzen Abend durchgucken. Der Goldmedia-Geschäftsführer prognostiziert: „Im Kampf um Marktanteile wird künftig der Anbieter die Nase vorn haben, der am meisten zu bieten hat: niedrige Preise, attraktive Serien und Spielfilme, eine hohe Aktualisierungsrate, Original Content, redaktionell gestützte Empfehlungen und eine geräteübergreifende Nutzbarkeit.“

Nachdem zunächst die großen Eigenproduktionen der Unternehmen aus den USA stammten, kommen nun auch Serien aus Deutschland ins Programm – und zwar mit Starbesetzung: In der sechsteiligen Thriller-Serie „You are Wanted“ spielen Matthias Schweighöfer, Alexandra Maria Lara und Karoline Herfurth mit. Die Staffel startet am 17. März auf Amazon. 

Offenbar weigern sich auch zunehmend Schauspieler, im althergebrachten Fernsehen aufzutreten, wie Produzent Dan Maag verriet: „Die Serie hätten wir so nicht im linearen Fernsehen machen dürfen.“ Lara und Herfurth seien für eine Serienproduktion in der klassischen Television nicht zu haben gewesen. Außerdem seien die redaktionellen Wege bei Amazon kürzer gewesen.

Auch bei Maxdome spielen in „Jerks“ mit Fahri Yardim und Christian Ulmen zwei deutsche Stars. Die Komödien-Staffel ist die erste deutsche VoD-Serie überhaupt. Auch Nora Tschirner, Karsten Speck, Sido und Kay One treten darin auf.

Ein weiteres Attraktivitätskriterium der Streaming-Portale scheint die Unterhaltung ohne pädagogischen und soziologischen Anspruch zu sein, die vielen Zuschauern zum Beispiel beim ARD-„Tatort“ auf die Nerven geht. Die einst von der BBC ausgestrahlte PS-Serie „Top Gear“ mit unter anderem Jeremy Clarkson läuft nun bei Amazon unter dem Namen „The Grand Tour“. Moderiert wird sie erneut von einem Trio um Clarkson, den das britische Staatsfernsehen wegen „anstößiger Bemerkungen“ verwarnt hatte.

Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in Deutschland. Eine Serie über Adolf Hitler wird nun nicht im herkömmlichen Fernsehen laufen, sondern wahrscheinlich ebenfalls auf einem Video-on-Demand-Portal. RTL ist aus der gemeinsamen Produktion mit Ufa Fiction ausgestiegen. „Wir glauben, daß wir innerhalb unserer Programmstrategie anderen Projekten den Vortritt lassen sollten“, begründete RTL-Programmgeschäftsführer Frank Hoffmann den Schritt, obwohl er das Drehbuch für „hervorragend“ halte. Die Ufa wird die Produktion nun ohne RTL vorantreiben. Das Unternehmen spreche jetzt gezielt Dienstleister großer internationaler Plattformen an. 

Apple und Facebook wollen auch ein Stück vom Kuchen

Amazon setzt übrigens auch schon die von RTL ausgestrahlte und von der Ufa produzierte Serie „Deutschland 83“ als „Deutschland 86“ fort.

Auf dem Sprung in den boomenden Markt stehen nun auch die Giganten Apple und Facebook. Das Wall Street Journal berichtet, das soziale Netzwerk arbeite an einer eigenen App fürs Streaming-TV. Demnach laufen bereits Gespräche, um das Angebot mit exklusiven Inhalten zu bestücken. Facebook möchte offenbar den Werbemarkt erweitern und daher mit dem Angebot auch nicht auf mobile Endgeräte, sondern direkt auf den Fernseher gelangen. Bisher habe das Unternehmen bei diesen Plänen nur die USA im Blick. Eine Expansion nach Deutschland bleibt wohl dennoch nur eine Frage der Zeit.

Auch Apple plant nun eigene Film- und Serienproduktionen. Dort wolle man „signifikant“ investieren, meldet ebenfalls das Wall Street Journal. Apple führe demnach seit Monaten Gespräche mit Produzenten, um sich an Rechten zu beteiligen oder diese vollständig zu erwerben. Angeblich will das Unternehmen aber nicht in direkte Konkurrenz zu Anbietern wie Netflix oder Amazon treten. Ob Apple bei dieser Linie bleibt, erscheint bei dem wachsenden Markt fraglich. Sicher ist dagegen, daß das klassische Fernsehen mit einem Abendprogramm ab 20.15 Uhr bald nur noch eine Minderheit erreichen wird.