© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

Pankraz,
Van Reybrouck und das Los als Wahlurne

Die postdemokratische Stimmung in der Politologie um Deutschland herum nimmt immer weiter zu. Autoren wie Colin Crouch (England), Emmanuel Todd (Frankreich) oder David Van Reybrouck (Belgien) melden ihre tiefe Skepsis an. Die „moderne“ Demokratie, so heißt es, sei unfähig, Volksmeinungen und politisch-soziale Notwendigkeiten real anzuzeigen. Etwas Neues müsse her.

Glücklicherweise werden die einschlägigen Bücher noch ins Deutsche übersetzt, so daß hiesige Interessenten nicht in fremde Sprachen ausweichen müssen. David Van Reybroucks flämischer Bestseller „Tegen verkiezingen“ zum Beispiel erschien hierzulande voriges Jahr und wurde inzwischen auch hier und da rezensiert (David Van Reybrouck, „Gegen Wahlen“, Wallstein Verlag, Göttingen 2016, broschiert, 200 S., 17,90 Euro).

Reybrouck (45) unterscheidet sich von den übrigen Postdemokraten nicht nur durch Temperament, sondern auch durch die originelle Perspektive, aus der heraus er sein Thema angeht. Er sieht die Demokratie nicht so sehr durch alternative Kräfte,  als da sind Diktatur, Elite-Anmaßung, Korruption, Nepotismus, bedroht, sondern durch die Demokratie selbst. Das Grundübel sind seiner Meinung nach die (freien oder weniger freien) Wahlen, die verbreitete Überzeugung, daß sich durch bloße Stimmabgabe und Ermittlung der Mehrheitsmeinung irgend etwas politisch ordentlich regeln ließe.

Als Alternative zu demokratischen Wahlen nennt Reybrouck eine Art demokratische Lotterie.  Das Los soll – zumindest bei wirklich wichtigen Fragen – an die Stelle von Wahlergebnissen treten. Bis hin zur Französischen Revolution, argumentiert er, sei dieses Prinzip erfolgreich angewendet worden, etwa in der blühenden Stadtrepublik Venedig zu Zeiten der Renaissance. Die Wurzel dieses Prinzips aber liege im antiken Athen, der ersten Demokratie der Welt.


Bevor man sich an die Empörungsschreie der Kritiker anschließt, sollte man sich, findet Pankraz, die politische Szene im alten Athen ein bißchen näher betrachten. Seine freien Einwohner waren zwar leidenschaftliche Debattenredner in der Volksversammlung, sahen aber tatsächlich sehr scharf den Unterschied zwischen politischer Rede und politischer Praxis. Eine eindrucksvolle Suada garantierte in ihren Augen noch lange nicht einen guten Amtsverwalter. 

Sie diente lediglich dazu, allen Polis-Teilnehmern die aktuelle Problemlage deutlich zu machen, qualifizierte den, der sie losließ, indes keineswegs von vornherein für ein Amt, fast im Gegenteil, Mißtrauen ihm gegenüber war angebracht. Denn er konnte ja lügen, indem er das Richtige sagte. So ließ man denn das Los entscheiden.  Dieses Verfahren beruhte freilich auf zwei Voraussetzungen.

Erstens gingen die Athener davon aus, daß jeder freie, sich für Politik interessierende Bürger, ob nun Lügner oder nicht, grundsätzlich politikfähig war, über „phronesis“ verfügte, Lebensklugheit, praktischen Sinn. Zweitens gingen sie davon aus, daß im politischen Geschäft auch die Götter mitmischten, die „objektiven Notwendigkeiten“, wie wir heute sagen würden. Das Los sollte eben die Götter ins Spiel bringen. Es war kein Agent des Zufalls, sondern Siegel der Notwendigkeit.

Wen es traf, der wurde eine Amtsperiode lang mit dem „Geschick“ verbunden, der „ananké“, und man setzte voraus, daß ihm diese Verbindung Heil verschaffen, seine Phronesis stärken und beflügeln würde. Er hatte also nicht etwa „Glück gehabt“ im flachen heutigen Lotto-Sinne, sondern das Los war ihm „aufgebürdet“ und er bekam Gelegenheit, sich dieser Bürde würdig zu erweisen und sich Ruhm zu verschaffen, indem er sie für die Stadt und den Staat nutzbar machte.

Van Reybrouck hat auch nicht ganz unrecht: Moderne Demokratien könnten sich mit den beiden Voraussetzungen durchaus anfreunden. Jeder Kandidat, der aufgestellt wird, ob Ochsentourer oder Seiteneinsteiger, hält sich ja ganz selbstverständlich für politikfähig (jedenfalls müßte er es tun), glaubt sich von Phrónesis erfüllt, und im Grunde spricht ihm kein Gegenkandidat öffentlich diese Tugend ab, auch wenn er noch so heftig gegen ihn zetert.


Und was die Rolle der Götter betrifft, der objektiven Notwendigkeiten, so zweifelt auch kein heutiger Politiker, und sei er noch so dezisionistisch gestimmt, daran, daß ihm diese Notwendigkeiten wie Berge entgegenstehen, daß er sich mit ihnen gewissermaßen „verbünden“ muß. Ist er gläubiges Kirchenmitglied, so betet er im Gottesdienst inniglich darum, daß der Segen des Höchsten auf seiner verantwortungsvollen Tätigkeit liegen und ihm helfen möge.

Die Vorteile einer Kandidatenwahl per Losentscheid liegen auf der Hand. Kein Wahlkampf mit demagogischen Tricks und leeren Versprechungen mehr, vielmehr eifriges gemeinsames Herausarbeiten und Anleuchten der Probleme, die vor der Polis stehen. Leidenschaftliche Sachdebatten ohne persönliche Rankünen, da ja die Personalfragen bereits in den „Primaries“ erledigt wurden, als spezielle Parteifreunde ihren speziellen Kandidaten für den „Tag des Orakels“ benannten. 

Wo aber bliebe bei alledem die „Volkssouveränität“, der wirkliche, abzählbare Wille der Mehrheit, der in der modernen Demokratie bekanntlich als das A und O jeglicher politischer Betätigung gilt? Nun, gerade der Blick auf die aktuelle Berliner Politik offenbart, wie elend  es mit dieser Volkssouveränität bestellt ist. Der Kampf des herrschenden politisch-medialen Komplexes gegen die „Populisten“ kennt schon seit längerem buchstäblich keine Hemmungen mehr. Es gibt in den Augen der Kämpfer gar kein Volk mehr, das souverän sein könnte, nur noch „Hetzer“, die mit allen Mitteln zum Schweigen gebracht werden müssen.

Wie schrieb der überzeugte Postdemokrat Todd in seinem Buch „Après la Démocratie“? „Ohne enge und stetige Bindung zum Volk sind gewählte Politiker nur gut bezahlte Hampelmänner.“ David Van Reybrouck fügte hinzu: „Ohne die Lotterie der Götter sind Politiker nicht einmal Hampelmänner.“