© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

„Boah, voll haram“
Soziologie: Daß Jugendliche immer wieder neue sprachliche Trends ausbilden, ist nicht neu, doch zunehmend setzen moslemische Schüler Standards und etablieren neue Herrschaftsstrukturen
Verena Inauen

Merit und Sophia (Namen geändert, der Redaktion bekannt) sind seit Kindertagen schon gute Freundinnen. Erst besuchten sie gemeinsam die Grundschule, dann kamen sie auch in der Oberschule in Berlin-Mitte in die gleiche Klasse. Merit ist Moslemin, keine übertrieben gläubige, aber sie steht dazu. Sophia kommt aus einem unpolitischen christlichen Elternhaus, Toleranz wurde ihr schon früh beigebracht, erzählt das brünette Mädchen der JUNGEN FREIHEIT. Über Religion haben sich die beiden Mädchen noch nie besonders viel unterhalten, sie spielte keine Rolle in ihrer Freundschaft. Gemeinsam gingen sie ins Kino, lasen Mädchenzeitschriften oder trafen sich in der Stadt mit Freunden. Von Islam, Allah oder Begriffen wie „halal“ und „haram“ war zwar immer wieder in ihrer Klasse die Rede, die beiden beschäftigten sich aber nicht damit. Bis zu einem gewöhnlichen Schultag im Winter. Da kam die damals 14 Jahre alte Merit plötzlich mit einem Kopftuch in den Unterricht. Und Sophia fing an, viele Fragen zu stellen.

„Dein Land ist sowieso scheiße“

In den vergangenen Wochen ist die heute 15 Jahre alte Sophia, eine gute Schülerin mit besten Noten, eine Expertin auf dem Gebiet „Islam“ geworden. Zwangsweise. Sie ist eine von sechs „biodeutschen“ Schülern, wie ihre Lehrer das mit etwas Humor nennen. Die restlichen 20 Schüler in ihrer Klasse sind aus der Türkei, Ägypten, Afghanistan, Bosnien, aus Polen und Rußland. „Eine gute Bekannte aus der Nachbarschule beneidet uns darum. Dort haben 28 von 30 Schülern in der Klasse einen Migrationshintergrund“, erzählt Sophia von einem Gymnasium um die Ecke. Doch die Schülerin hat mit diesem Umstand zu leben gelernt, sie wird in Ruhe gelassen. Der Konflikt tobt unter ihren Mitschülern mit Migrationshintergrund. Vor allem die männlichen Schüler aus den arabischen Ländern liegen sich seit einigen Jahren in der Schule, die unter dem Motto fährt, daß Vielfalt ein Gewinn sei, in den Haaren. „Dein Land ist sowieso scheiße“, hört die Klasse regelmäßig bei Streitigkeiten zwischen Türken und Ägyptern oder Bosniern und Afghanen. „Aber eines haben sie dann doch gemeinsam: die Kurden kommen einfach nie gut weg“, schildert sie die Konflikte der verschiedenen Migrantengruppen in ihrem Umfeld.

Persönliche Dispute werden auf politischer Ebene ausgetragen. Auf der kennen sich die Jugendlichen erstaunlich gut aus. Manche blieben sitzen und kamen in Sophias Klasse, die Altersunterschiede betragen bis zu drei Jahre. „Die Jüngsten sind 14, die Ältesten lernen mit 17 Jahren gerade für den Führerschein.“ Durch die Pubertät verschlimmerte sich der Identitätskonflikt ihrer Mitschüler, glaubt Sophia. Halt suchen viele im Glauben. Praktiziert wird er von den wenigsten in ihrer Klasse zwar wirklich ernsthaft, argumentiert wird aber immer wieder damit.

Die Klassenkameraden von Merit haben sich an den Anblick des Kopftuches gewöhnt, viele der männlichen Jugendlichen sind ebenfalls Moslems und begrüßten ihre Entscheidung, von nun an einen Hidschab zu tragen, durch anerkennendes Kopfnicken. Nein, gezwungen habe sie niemand dazu, erzählte sie damals Sophia in der ersten Pause. Wie sie sich kleide, sei ganz ihr überlassen, stellte Merit schnell gegenüber der gesamten Klasse klar. „Ihre Eltern sind ziemlich locker, sie muß auch nicht ständig beten, wenn es der Schulalltag nicht erlaubt, sondern kann das zu Hause nachholen“, erzählt die Freundin vom gemeinsamen Alltag. „Nur auf Schweinefleisch soll sie wenn möglich verzichten.“

An einem Tag im Januar wollte Merit jedoch einen neuen Modestil ausprobieren. Gleich zu Beginn des neuen Jahres, einem kühlen Wintermorgen, kam sie mit einem dunklen Mantel, einem weiten, warmen Kleid und einer fein gemusterten Strumpfhose in die Schule. Durch das gemusterte Nylon mit kreativen Spitzen schien ein handbreiter Teil ihrer blassen Haut durch. „Haram!“ ertönte es schon auf dem Flur der Schule, bevor die Schulglocke den Unterricht ankündigte. 

Mit dem Wort „Haram!“ zeigten auch ihre männlichen Klassenkameraden auf ihre Beine, als sie sich auf ihren Platz setzte. Sophia verdrehte die Augen, wandte sich wieder ihren Hausaufgaben zu, die sie noch schnell fertigstellen wollte. Was „haram“ zu bedeuten hat, weiß sie schon längst. Der Ausdruck wird für alles verwendet, was nach der Scharia, dem moslemischen Recht, als verboten und sündig angesehen wird. Haut zu zeigen gehört dazu. Warum? „Das könnte die jungen Männer auf sündige Gedanken bringen“, erklärt uns die 15jährige gelangweilt von dem ständig präsenten Thema. Merit war verunsichert. Am nächsten Tag trug sie wieder eine dunkle Jeans und eine weite Bluse zu ihrem hellblauen Kopftuch.

„Haram“ tönen aber nicht nur die moslemischen Jugendlichen in der Berliner Oberschule, sondern mittlerweile auch ihre nicht-islamischen Klassenkollegen. Der Begriff hat sich schnell zu einem regelrechten Modewort entwik

kelt. Mit erhobenem Zeigefinger und in moralintriefendem Tonfall wird den Mädchen erklärt, was sie gefälligst zu unterlassen hätten. Nur den Mädchen.

Diese Beobachtung hat auch die Redakteurin des Wiener Magazins Biber, Melisa Erkurt, gemacht. Die Moslemin begleitet mit ihrem Projekt „Newcomer“  – gemeinsam sollen die Schüler Trends und „Rollenbilder“ hinterfragen – seit Jahren gezielt Klassen aus Brennpunktschulen und machte eine erstaunliche Beobachtung, die sich quer durch den deutschsprachigen Raum zu ziehen scheint. 

Große Hysterie, als ein Schuh verkehrt herum lag

Auf ihre oft in verschiedenen Klassen wiederholte Frage, wofür der Islam eigentlich stehe und was er vermittle, erhielt sie kaum eine Antwort. „Frage ich die Jugendlichen aber, was haram oder halal bedeutet, antworten sie brav“, schildert sie in ihrem Beitrag. Nicht zu trinken, nicht zu rauchen, sich als Frau nicht leicht zu bekleiden und viele andere Dinge. Das alles sei „haram“, ein Teil des Islams. Alkohol, Partys und Wasserpfeifen seien aber nur für Frauen tabu. Viele der Schüler, die sich gegenüber der  Biber–Redakteurin äußern, weisen ihre Mitschülerinnen zwar darauf hin, was sie falsch und damit „haram“ machen, treffen sich aber nach der Schule und am Wochenender selber in Shisha-Bars, gehen aus und trinken Alkohol oder sehen sich Videos von mehr als leicht bekleideten Damen an. „Ich dachte, mich könnte eigentlich nichts mehr verwundern, aber da habe ich die Rechnung ohne ‘Generation haram’ gemacht“, so Melisa Erkurt.

„Haram“ – den Begriff kennen mittlerweile auch Merit und Sophia. Auf einer Klassenfahrt vor einigen Wochen brach große Hysterie auf dem Gang des Schullandheimes aus. Ein Paar Turnschuhe vor dem Zimmer der Jungs lag verkehrt herum, zeigte mit der Sohle nach oben. Ein moslemischer Mitschüler reagierte geradezu panisch. Jemand anderer, ein Nicht-Moslem, müsse die Schuhe umdrehen, die Sohle nach oben beleidige Allah, und das sei „haram“. Die Freundinnen kicherten noch und machten sich über die Panik ihres Klassenkameraden lustig, man könne es immerhin auch übertreiben, fand sogar Merit. 

Wenig zu lachen hatte sie allerdings kurze Zeit später, als sie während des Völkerballspiels ihren Pulli auszog, weil ihr warm wurde. Das T-Shirt, das sie darunter trug, lag offenbar zu eng an. „Haram“, tönte es von der gegenüberliegenden Seite des Spielfeldes. Erstaunlicherweise allerdings von einem polnischen Mitschüler, der sie augenzwinkernd auf den Arm nehmen wollte. „Boah, voll haram“, zeigten aber im selben Augenblick auch die arabischen Kollegen auf das figurbetonte, türkisfarbene Shirt mit einem geschlossenen, runden Ausschnitt.

Daß Jugendliche immer wieder neue und eigene Trends ausbilden, ist für den Oberstufenlehrer Peter Nemich (Name geändert) keineswegs eine Seltenheit. Das sei sogar wichtig für die eigene Gruppendefinition, schildert er der jungen freiheit. Der gebürtige Sachse trat vor 15 Jahren in den Schuldienst ein und unterrichtet seither Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren in den Fächern Geschichte und Deutsch. 

Immer wieder fielen ihm in seinem Heimatort sprachliche Besonderheiten auf, mit denen sich junge Menschen von der Erwachsenenwelt abgrenzen wollten. „Wörter wie Alter, cool oder kraß sind ein Beispiel dafür und haben mich täglich bis zu meinem Umzug nach Berlin begleitet“, erzählt der Lehrer. Mit der Übernahme einer Oberstufenklasse in Berlin-Mitte wurde sein Wortschatz aber auch noch um den Ausdruck „haram“ erweitert. 

Was dieser genau zu bedeuten hat, fand er bereits zu Beginn seiner dortigen Unterrichtstätigkeit heraus. Gemeinsam mit der Parallelklasse sollten er und seine Schüler einen Bauernhof in Brandenburg besuchen, um einen Einblick in verschiedene Berufsfelder zu bekommen. Während sich bei vielen Vorfreude auf den gemeinsamen Ausbruch aus dem Schulalltag einstellte, entbrannte bei den moslemischen Mitschülern eine heftige Diskussion: „Sie diskutierten tatsächlich über die Lebensberechtigung von Schweinen, die es dort natürlich auch zu sehen geben sollte“, verstand der Lehrer die Welt nicht mehr. 

Vor allem weibliche Schüler stehen unter Druck 

„Haram“ sei nicht nur der Verzehr des Fleisches, sondern nach Ansicht der Jugendlichen sogar das ganze Leben dieser Tiere, stellte Nemich fassungslos fest. „Es ist zwar schwierig, nicht sofort den nächsten Streit zwischen den Schülern auszulösen, aber mit Geduld und Einfühlungsvermögen versuche ich seither, Respekt und Toleranz für jede Lebensform und auch jede Religion zu vermitteln.“

Obwohl seine eigentlichen Aufgabengebiete etwa die deutsche Grammatik und die europäische Geschichte sind, sei ein Unterricht ohne diese Bemühungen oft gar nicht möglich. „Vor allem moslemische Jugendliche grenzen sich über ihre eigene Religion ab und fühlen sich so stärker als ihre deutschen Mitschüler“, schildert der Pädagoge seine Beobachtungen.

Deutlich zu spüren bekam diese Gruppenstärke der moslemischen Mitschüler wie so oft auch Merit, als sie im vergangenen Jahr erstmals versuchte, den Fastenmonat Ramadan einzuhalten. Doch an einem heißen und anstrengenden Schultag verließ sie ihre Konsequenz,  und sie genehmigte sich einen kühlen Schluck Wasser und ein Stück Pizza. 

Was folgte, waren schmähende „Haram“-Rufe und abfällige Blicke. Sie sei gar keine echte Moslemin, eine schlechte Gläubige, warfen ihr die Klassenkameraden an den Kopf. Merit tat gegenüber ihrer Freundin so, als ob sie sich von den selbsternannten Sittenwächtern in ihrer Klasse nicht einschüchtern lasse. Sophia glaubte ihr und bestärkte sie in ihrer Haltung, den Glauben auf ihre Art auszuleben. Bis zu jenem Wintertag, an dem Merit statt einer Mütze ein Kopftuch trug. Seither ist sich die Berlinerin nicht mehr sicher, ob sie durch die Stoffbahnen und „Haram“-Rufe ihrer moslemischen Klassenkameraden noch zu ihrer Freundin vordringt. 





Haram-Phänomen: Pädagogik hilflos 

Kurt Edler, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik, nimmt kein Blatt vor den Mund. „Politisch-religiöse Radikalisierungserscheinungen machen sich heute in vielen Schulen und Jugendeinrichtungen bemerkbar“, schrieb er auf ufuq.de, dem „Portal für Pädagogik zwischen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus“. Sie beeinflußten das Schulklima, belasteten die Beziehungen, erschwerten die pädagogische Arbeit, gefährdeten Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung und trügen in gravierenden Einzelfällen gar dazu bei, daß junge Menschen sich für eine Unterstützung terroristischer Ziele einspannen ließen. Auf diese Herausforderung, so das Gründungsmitglied der Grün-Alternativen Liste in Hamburg, sei die „pädagogische Praxis oft genausowenig vorbereitet wie Schulleitungen und Schulaufsichten“. Die Probleme seien vielfältig, so Edler: Gesichtsverhüllung, religiöse Vorbehalte gegen Bildungsinhalte und Schulfächer, Beten und Gebetsräume in der Schule sowie „islamistische Machtausübung“. Laut Edler gibt es unterhalb der Ebene des organisierten extremistischen Einflusses in manchen Schulgemeinschaften „ungute, häufig verdeckt bleibende Herrschaftsstrukturen innerhalb der Jahrgänge und Klassen.“ Die am meisten davon betroffenen Schüler seien Mosleminnen. In aller Regel gehe es hierbei um männliche Bevormundung zum Nachteil des weiblichen Geschlechts. Diese Bevormundung könne die Kleidung betreffen, aber auch die Beteiligung am Unterricht, wenn es um „heiße Themen“ gehe, wie die „Ehe und andere Lebensformen, die Sexualität oder die Emanzipation der Frau“.