© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

Widerstand aus dem Hörsaal
Türkei: Erdogan bekommt auf dem Weg zur Verfassungsänderung hin zu einer präsidialen Republik immer mehr Gegenwind / An den Universitäten rumort es
Marc Zoellner

Es wird eng für Erdogan – wieder einmal. Denn auch im kommenden Anlauf des türkischen Präsidenten scheint sein Wunsch zur Verfassungsänderung hin zu einer präsidialen Republik auf Messers Schneide zu balancieren. Zwar winkte das türkische Parlament am 20. Januar mit erforderlicher Mehrheit die eingereichten Vorschläge Erdogans noch einmal durch: speziell die Regierungspartei AKP sowie die nationalistische Oppositionsbewegung MHP, von welcher lediglich sechs Abgeordnete mit „Nein“ votierten. 

Doch neueste Umfragen belegen einen zweifelhaften Rückhalt Erdogans unter den türkischen Wählern. Eine Mitte Februar von der kemalistischen CHP in Auftrag gegebene Meinungserhebung ergab, daß lediglich 41 Prozent der Befragten in der für den April angesetzten Volksabstimmung mit „Ja“ stimmen wollten, 48 Prozent hingegen mit „Nein“. Gut elf Prozent hatten sich noch nicht entschieden. 

Bereits eine Woche zuvor hatte das CHP-nahe Gezici-Institut ganz ähnliche Zahlen veröffentlicht: Nämlich 41,8 Prozent Ja- zu 58,2 Prozent Nein-Stimmen. Zwar unterstützten rund 80 Prozent der AKP-Wähler ihren Präsidenten im Vorhaben der Verfassungsänderung. Allerdings, so Gezici, stünden selbst 70 Prozent der Sympathisanten der MHP, Erdogans treuestem und radikalsten Verbündeten im türkischen Parlament, auf seiten der Ablehner; ganz zu schweigen von über 93 Prozent der CHP-Wähler.

Auch die prokurdische HDP mobilisiert bereits ihre Anhängerschaft. „Unsere Leute wissen, was dieses Referendum wirklich bedeutet“, verkündete der HDP-Fraktionsvorsitzende Idris Baluken. „Als Mitglieder einer politischen Partei, welche von diesem Prozeß ausgeschlossen und deren Recht zu wählen ihr entrissen wurde, ist es unsere Pflicht, zu diesem Verfassungspaket auf die härtest mögliche Weise ‘nein’ zu sagen.“

Entlassungswelle führte zu Kulturkampf um Inhalte

Mit der Auflösung des Amtes des Ministerpräsidenten stünde dem Präsidenten fortan allein zu, seine Minister zu ernennen und auch wieder zu entlassen, warnt die sozialdemokratische CHP. Erdogan wäre Staats- und Regierungschef in einer Person – auf fünf Jahre gewählt, und dies zeitgleich mit der Wahl zu einem neuen Parlament. Mit dem faktischen Verbot von Militärgerichten sowie der passiven Wahlteilnahme von Armeeangehörigen würde die Verfassungsreform die Machtbefugnisse des türkischen Heeres, welches bislang als wichtigste Stütze des kemalistischen Systems der Türkei galt, noch weiter untergraben. Das passive Wahlalter fiele allerdings im gleichen Zug von 25 auf 18 Jahre, ohne daß ein bereits abgeleisteter Militärdienst noch als bindende Voraussetzung gälte.

Bereits vorausgegangene Machtverschiebungen hätten negative Affekte auf die türkische Zivilgesellschaft nach sich gezogen. Wie zuletzt das Notstandsgesetz vom 29. Oktober. In diesem wurde Erdogan nach dem gescheiterten Putsch mutmaßlicher Gülenisten unter anderem gestattet, selbständig die Rektoren der Hochschulen der Türkei zu ernennen; eine Befugnis, welche vorab einzig dem Hochschulrat (YÖK) oblag. Eine beispiellose Entlassungswelle war die Folge; und ebenso ein durch diese begünstigter Kulturkampf, welcher in ein geradezu paradoxes Ringen um den Inhalt der Lehrpläne in Schulen und Universitäten mündete. 

„Wir erleben das nicht zum ersten Mal“, sieht sich CHP-Sprecherin Selin Sayek Böke hinsichtlich der verschärften Konfrontation der türkischen Bildungseinrichtungen mit der AKP-Regierung bestätigt. „Jeder Staatsstreich bringt zuerst die Universitäten zum Schweigen. Putschisten fürchten die Wissenschaft, die Universitäten und überhaupt das aufklärerische Denken.“