© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

„Demokratie ist die Staatsform der Geduld“
Antje Hermenau war Grüne der ersten Stunde in Sachsen, vertrat die Partei im Bundestag und als Fraktionschefin im Landtag. Dann trat sie aus. Heute plädiert sie für eine Neuorientierung im Zeichen einer politischen Zeitenwende.
Moritz Schwarz

Frau Hermenau, Ende letzten Jahres sind Sie bei der AfD im sächsischen Döbeln aufgetreten. Die „Zeit“ fragte: „Darf die das?“

Antje Hermenau: Warum sollte ich auf Einladung einer demokratisch gewählten Partei, die im Landtag sitzt und nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird, nicht aus meinem Buch lesen und darüber diskutieren? Natürlich wird so etwas gerne als Signal interpretiert. Das war es aber nicht. Mir ging es um eine inhaltliche Auseinandersetzung.

Was halten Sie davon, daß in Deutschland solche Fragen gestellt werden?

Hermenau: Das ist Folge der Emotionalisierung der Politik. Die aber nichts Neues ist und sich auf allen Seiten findet, links und rechts nehmen sich da nichts.

Laut Politik und Medien ist „Emotionalisierung“ allerdings nur rechts zu Haus.

Hermenau: So erscheint es, tatsächlich aber kommen Schrillheiten doch von beiden Seiten.

Wenn die Debatte das jedoch nicht reflektiert, ist sie dann nicht unfair? 

Hermenau: Man sollte versuchen, das differenzierter zu sehen: Der Politik ist klar, wieviel sie der Bevölkerung in letzter Zeit zumutet. Daher versucht sie, sich mit Sinnstiftung zu behelfen. Etwa mit dem Appell, es gäbe eine große historische Aufgabe, die zu schaffen wir Deutsche berufen seien. Das ist eine typische Strategie. Die allerdings grundsätzlich von allen politischen Richtungen gerne verfolgt wird. Denn es ist viel langwieriger und schwieriger, eine Politik argumentativ zu begründen, auszudiskutieren und per Überzeugung durchzusetzen, als auf emotionalem Wege eine Mehrheit zu erreichen. Das ist sozusagen eine Abkürzung in der Politik. Seit der Einführung der Schuldenbremse und dem Ende der Neuverschuldung müssen aber alle Parteien Farbe bekennen. Das Prinzip des gekauften Konsenses funktioniert deshalb nicht mehr. 

Warum nicht?

Hermenau: Weil Preis dieses Konsensmodells war, daß jede Partei immer auch ein Extra in ihr „Körbchen“ gelegt bekommen hat. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei, es reicht nicht mehr für alle, und die politischen Verteilungskämpfe werden härter. Im Grunde erleben wir – freilich im Vergleich auf „luxuriösem“ Niveau – nun das gleiche wie 1989 vor der Friedlichen Revolution in der DDR: Das Geld geht aus und die Ideologie überzeugt nicht mehr. 

Das sind erstaunlich klare Worte. 

Hermenau: Alles andere nützt auch nichts. Denn entscheidend ist, wem es gelingt, die Bevölkerung davon zu überzeugen, wie es weitergehen kann mit unserer Demokratie. Wir brauchen neues Zukunftsvertrauen. Warum sollte man das nicht klar aussprechen?   

Weil die Seite der etablierten Politik – ihre Herausforderer aber natürlich auch – versucht, diese Wahrheit zu verheimlichen.

Hermenau: Verheimlichen wird aber im Internetzeitalter nicht funktionieren. Ich habe auch den Eindruck, daß es eher um Verdrängen geht als um gezieltes Verheimlichen. Denn letztlich müssen auf die neuen Fragen tragfähige Antworten gegeben werden. So kann unsere Gesellschaft einen neuen Konsens finden, mit dem wir diese Krise bestehen können. 1989 mußte erst die SED über ihren Schatten springen, indem sie Runde Tische zuließ. Dann aber mußten wir von den Runden Tischen deren Seite einbinden. Denn es darf nicht passieren, daß ein relevant großer Teil der Bevölkerung auf Dauer nicht beteiligt wird und innerlich auswandert. Deshalb müssen alle Seiten lernen, Verständnis und Geduld aufzubringen: Demokratie ist die Staatsform der Geduld. 

Aber müßte der erste Schritt dazu nicht von den Etablierten kommen, so wie damals von der SED?

Hermenau: Der erste Schritt kam damals nicht von der SED, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, aus Kultur und Kirche, zum Beispiel beim „Aufruf der Sechs“ in Leipzig. Die SED wurde von ihnen eingebunden.  Ich meine, daß inzwischen bei allen Parteien mehr Nachdenklichkeit, ja auch Verunsicherung, zu bemerken ist. Der Brexit, der erste Erfolg Norbert Hofers in Österreich, die Wahl Donald Trumps haben viele nachdenklich gemacht. Man merkt: Die Verweigerung eines Teils der Bevölkerung hat relevante Ausmaße angenommen. Wenn Sie etwa den differenzierten Artikel der taz zu meinem Auftritt bei der AfD in Döbeln lesen, merken Sie, wie weit das Umdenken bei manchen schon fortgeschritten ist.

Wird dennoch nicht vor allem versucht, den Teil der Gesellschaft, der sich verweigert und laut protestiert, auszugrenzen und vom Diskurs auszuschließen, statt ihn demokratisch zu integrieren? 

Hermenau: Das sieht zumindest so aus, das muß ich zugeben. Aber es ist auch die AfD, die immer wieder deutlich macht, daß sie mit den von ihr so genannten etablierten Parteien nichts zu tun haben will. Das wird wohl bis zur Bundestagswahl auch so bleiben. Aber es wird nach wie vor gerne so getan, als ob dieser Teil der Gesellschaft, der sich in der AfD sammelt, in toto grundlegende moralische Prinzipien der Bundesrepublik verneinen würde. Was so pauschal aber einfach nicht zutrifft, wie ich etwa auch bei meiner Lesung in Döbeln erlebt habe. 

Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

Hermenau: Die Einlader haben die Debatte zum Buch ordentlich moderiert, da wurde nicht versucht, Einfluß auf Meinungen zu nehmen. Schärfe kam am ehesten durch eine Landtagsabgeordnete der AfD rein. Und es war dort keineswegs nur AfD-Publikum anwesend, sondern eine bunte Mischung, auch Linke. Schließlich fingen die Zuhörer an, miteinander zu diskutieren. Das fand ich sehr gut. 

Sie haben für den Auftritt allerdings auch von vielen Kritik einstecken müssen. 

Hermenau: Ich glaube, theoretisch würden alle den Ansatz, man müsse miteinander reden, sofort unterschreiben. Nur in der Praxis halten sie sich nicht daran, denn in der Praxis heißt das: eben auch mit der AfD.

Wie kommt es, daß sie nicht bereit sind auch zu tun, was sie postulieren?

Hermenau: Ich glaube, das hat eben mit der Selbstwahrnehmung zu tun, per se auf der „richtigen Seite“ zu stehen – ungetrübt von der eigentlich für die Demokratie grundlegenden Voraussetzung, es könnte auch sein, daß der andere recht hat. Diese Einsicht aber fällt vielen schwer. Allerdings: Das gilt wiederum für beide Seiten, links wie rechts. 

Der Landesvorsitzende der Grünen in Sachsen, Jürgen Kasek, nannte Ihren Auftritt in Döbeln via Twitter: „politische Prostitution bei Demokratiefeinden“. 

Hermenau: Ein souveräner Politiker sollte es nicht nötig haben, derart unsachlich aufzutreten. Er hat offensichtlich versucht, sich als Chef der Grünen zu profilieren. Und deren Rolle soll nach seiner Auffassung offenbar sein, der AfD den Kulturkrieg zu erklären. Ich weiß zwar nicht, was das mit der Suche nach konstruktiven Lösungen für die Zukunft unseres Landes zu tun hat – aber das müssen die Grünen entscheiden. Ich bin da ja seit zwei Jahren raus. Allerdings ist mir aufgefallen, daß die AfD den Grünen offenbar auch den Kulturkrieg erklärt hat. 

Warum genau sind Sie ausgetreten? 

Hermenau: Wegen des internen Umgangs miteinander nach der Landtagswahl 2014 und den anstehenden Koalitionsverhandlungen, was ich aber nicht weiter ausbreiten möchte. 

Sie sind menschlich enttäuscht? 

Hermenau: Sagen wir, es war charakterlich nicht mehr meine Art des Umgangs miteinander, Punkt. Allerdings war das nur ein Grund. Ein anderer war, daß ich mehr Zeit für meinen Sohn haben wollte, der damals acht war. Drittens: Die Grünen in Sachsen wollen nach links, sie wollen nicht regieren. Und wenn, dann nur mit Rot-Rot, damit sie ihre linken Inhalte, die auch einen Umbau der Gesellschaft bedeuten, umsetzen können. Das war aber nie mein vordringliches politisches Motiv.

Sondern?

Hermenau: Ich verstehe mich eher als einen liberalen Geist – vielleicht sogar mit ein paar konservativen Einsprengseln. Zum Beispiel lege ich noch Wert darauf, auch zu heiraten, wenn man ein Kind bekommt. Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht etwa böse auf die Grünen. Eine Partei gehört schließlich niemandem, weder Jürgen Trittin noch mir. Manchmal trennen sich Wege einfach auch wieder. So ist das Leben.

Warum haben Sie sich politisch überhaupt für die Grünen entschieden?

Hermenau: Wegen des Umweltschutzes, der Bewahrung der Schöpfung. Leipzig war 1989/90 ökologisch in einer katastrophalen Lage. Außerdem wollte ich keiner ehemaligen Blockpartei beitreten. Damals waren die Grünen in Leipzig auch in erster Linie Menschen und nicht ein bestimmtes Programm. Dann aber hatte ich erste Kontakte mit Grünen aus dem Westen – da kamen viele ehemals aus K-Gruppen. Das hat mich irritiert, denn ich dachte: Diese Sorte haben wir im Herbst 1989 doch gerade erst in die Wüste geschickt! Ich habe dann gelernt, daß es die Linken bei den West-Grünen vor allem als ihre Aufgabe verstehen, die Gesellschaft zu verändern. Das aber war nicht mein zentrales Anliegen. Natürlich, ich wollte helfen, die Demokratie in der DDR einzuführen. Doch ich dachte mir das so: Diese funktioniert im Westen und wir müssen sie bei uns nur noch einüben. Wie auch immer, ich habe mich dann erstmal der Haushaltspolitik gewidmet und damit einem eher unideologischen Bereich.

Wieviel Verständnis für demokratischen Pluralismus haben die Grünen?

Hermenau: Einerseits können die Grünen die Demokratie parteiintern ja bis zum Exzeß treiben. Andererseits – aber das gilt eigentlich allgemein – bin ich immer wieder darüber erstaunt, daß es für viele Menschen ein Problem ist, wenn einer eine völlig andere Meinung hat, diese zu ertragen. Allerdings will ich fair sein und muß daher anmerken, daß das eben nicht nur für die Grünen gilt, sondern für alle Parteien bis hin zur AfD. Auch dort gibt es viele, die glauben, per se recht zu haben und andere Meinungen einfach nicht akzeptieren können. Wenn bei der AfD etwa mal wieder die Parole „links-grün versifft“ zu hören ist, ist das auch nichts anderes als bornierter Kulturkampf. Leider fehlt eben auf allen Seiten die Grandezza, auch mal aus dem parteipolitischen Schützengraben zu kommen und auf den anderen zuzugehen, statt nur über die andere Seite herzuziehen, weil man sich dann des Applauses der eigenen Gefolgschaft sicher sein kann.  

Boris Palmer kritisiert, „die Grünen vertreten häufig das Modell der Toleranz und Weltoffenheit mit Intoleranz, was viele Leute gegen sie auf die Barrikade bringt“. 

Hermenau: Das finde ich sehr treffend zusammengefaßt. Ich glaube, das resultiert auch aus der Art und Weise, wie sich bei den Grünen eine politische Meinung bildet: Erst wird ewig diskutiert, dann setzt sich eine Parteilinie durch. Diese gilt fortan sozusagen als „heilig“ – weil man ja so sehr für ihre Findung geblutet hat, und es wird wie selbstverständlich angenommen, daß diese jetzt der Weisheit letzter Schluß sei, weil ja so viele kluge Grüne so gründlich darüber diskutiert haben. Daß es sich aber dennoch nur um einen möglichen Standpunkt in der Gesellschaft handelt, den die Mehrheit der Bevölkerung zudem vielleicht gar nicht teilt, das macht man sich kaum bewußt. 

Gibt es bei den Grünen einen heimlichen Haß auf die Mehrheit – auf eine weiße, eine männliche oder deutsche Mehrheit?

Hermenau: Das halte ich für eine Verschwörungstheorie. Programmatisch drückt sich das nicht aus, Vorsicht! Mir ist aufgefallen, daß ich in den neunziger Jahren immer wieder gebeten wurde, auf den Gebrauch der Worte Heimat oder Nation zu verzichten, das seien „ganz schwierige Begriffe“. Aber daraus kann man nicht das ableiten, was Sie mit der Frage unterstellen. 

Ist die grüne Programmatik nicht geprägt von Aversion gegen Volk, Nation, Geschlecht und abendländische Kultur?

Hermenau: Krallen Sie sich nicht an den Grünen fest. Man muß das Herkommen der Achtundsechziger insgesamt bedenken: Die Rebellion einer ganzen Generation als linke Bürgerbewegung richtete sich historisch betrachtet gegen die immer noch reichlich vorhandenen Nazis, den Kapitalismus und auch gegen die patriarchalische Familie. Seit 2006 erreicht diese Generation das Rentenalter. Außerdem ist das kein Privileg der Grünen, auch die SPD und die Linke ticken oft so und inzwischen auch ein großer Teil in der CDU. Da haben sich in den letzten Jahrzehnten einfach Werte gewandelt. Kann aber auch sein, daß in schwierigen Zeiten wie jetzt das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlägt und die Menschen wieder konservativer denken. Aber ich glaube, daß langfristig nur der politisch erfolgreich ist, der die Menschen zusammenbringt. Und das gilt sowohl für die Grünen als auch für alle anderen Parteien inklusive der AfD. Wer nur darauf beharrt, daß er recht hat und alle anderen anfeindet, der wird sich letztlich nicht durchsetzen können. Nur wer auch die Meinung anderer respektiert, die Bürger mitnimmt und unterschiedliche Gesinnungen zusammenführt, kann zum neuen Konsens unserer Gesellschaft beitragen, statt am Rande zu verharren.






Antje Hermenau, gehörte 1990 zu den Gründern der Grünen in Sachsen. Ab 1994 Mitglied des Landtages, wechselte sie 1994 in den Bundestag und 2004 zurück, um Fraktionschefin im Landtag zu werden. 2015 zog sie sich aus der Politik zurück und trat aus der Partei aus. Geboren 1964 in Leipzig, studierte Antje Hermenau Pädagogik und Verwaltungswissenschaften und ist heute als Kommunikationsberaterin tätig. 2015 erschien ihr Buch „Die Zukunft wird anders. Eine Streitschrift“.

Foto: Ex-Politikerin Hermenau: „Im Grunde erleben wir, freilich auf vergleichsweise luxuriösem Niveau, das gleiche wie 1989 in der DDR. Das Geld geht aus und die Ideologie überzeugt nicht mehr.“

 

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