© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/17 / 10. Februar 2017

Der Flaneur
Am Anfang war Erziehung
Martina Meckelein

Donnerstag, 7.26 Uhr, minus 4,9 Grad. Der Bus soll in zwei Minuten kommen. Eine Frau, blondiert, steht mit ihren beiden Töchtern an der Haltestelle. Ihr dicker Körper steckt in einem leichten Trainingsanzug. Sie raucht. Die Kälte scheint ihr nichts anzuhaben. Ihre Kinder hingegen hat sie ordentlich dick eingemummelt mit Anorak, Schal und Stiefeln. Trotzdem frieren die Mädchen, quengeln.

Über die Lippen der Frau kommt kein tröstendes Wort. Sie inhaliert stoisch, blickt die Kinder nicht an. Der Bus muß jetzt kommen.

Die Ältere der beiden Zwerge, sie sind vielleicht drei und fünf Jahre alt, fragt schüchtern: „Wann kommt der Bus?“ Zwischen zwei Zügen stöhnt die Mutter: „Gleich.“

Die Kleine weicht zurück, steht wieder in der zugigen Ecke. Sie sieht die Mutter bloß an.

„Mama, kalt“, beschwert sich die Jüngere. „Hinsetzen!“ sagt die Mutter. Die Kleine, verzweifelt: „Kalt.“ „Setzen!“ Sofort krabbeln beide verängstigt auf die Bank mit den eiskalten Plastikschalensitzen, auf denen kein Mensch sitzt, weil deren Boden mit gefrorenem Wasser bedeckt ist. Die Beinchen der Kinder baumeln in der Luft.

Die Kleine beginnt zu weinen. Sie rutscht herunter, befühlt ihre nasse Hose, stellt sich in eine der zugigen Ecken der Haltestelle und schluchzt anklagend: „Kalt.“ Tränen kullern.

Doch die Mutter sieht nicht hin. Sie nimmt nur einen tieferen Zug. Vielleicht hat sie die Remonstration des Kindes nicht gehört? Doch! Sie wirft die Zigarette zu Boden, stöhnt: „Ja.“ Der Bus ist seit zwei Minuten überfällig. Die Kleine haut vor Wut ihre größere Schwester, die beginnt zu kreischen.

Da dreht sich die Mutter um, schaut zum ersten Mal auf ihr Kind. Ihr Blick ist leer. Die Frau hebt leicht die rechte Hand, zwischen den Fingern eine frisch angezündete Zigarette. Die Geste ist keine Drohung, sie ist ein Versprechen. Die Kleine weicht zurück, steht wieder in der zugigen Ecke. Kein Laut ist zu hören, keine Träne mehr zu sehen. Das Kind schaut die Mutter bloß an. In den Augen des Kindes der gleiche leere Blick. Der Bus kommt – vier Minuten zu spät.