© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/17 / 10. Februar 2017

Der Niedergang des Linksliberalismus
Trump und die Folgen
Peter Kuntze

Daß eine Epoche zu Ende gegangen ist, erkennt man spätestens dann, wenn ihr eine Ausstellung gewidmet wird. Noch bis zum 26. Februar bietet sich im Londoner Victoria and Albert Museum die Gelegenheit, den Beginn jener fundamentalen Umwälzung in Erinnerung zu rufen, die in Deutschland als Zeit der kulturmarxistischen „Achtundsechziger“ firmiert. „You say you want a revolution?“ Unter diesem Titel eines Beatles-Songs läßt das berühmte V&A seit September 2016 „Records and Rebels 1966–1970“ Revue passieren.

Dem kulturpolitischen Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung wurde es bei der Rückschau „warm ums Herz“, schließlich sei es jene Zeit gewesen, in der der (Vietnam-)Krieg mit Musik bekämpft und Minderheitenrechte erstritten wurden. Doch heute? „Die Reaktion beherrscht das Feld – sei es in Putins Rußland, Trumps Amerika oder in den stramm rechts regierten Ländern Europas.“ Dieser Entwicklung, so klagt Alexander Menden, stelle die Ausstellung keine Aufforderung zum Handeln entgegen, sondern nur ihre eigene Form der No­stalgie – den sehnsüchtigen Blick zurück.

Nicht mit wehmutsvollen Elegien, sondern mit Haßtiraden und wochenlanger Schnappatmung reagierten die einst so selbstbewußten Leitmedien auf die Wahl Donald Trumps zum 45. US-Präsidenten. Sie wußten warum; einer der zahlreichen Wut-Autoren der Zeit, des liberalen Belehrungsfossils, nannte den Grund. Früher, so konstatierte er, habe in den Nachkriegsgesellschaften des Westens gegolten: „Gegen den Widerstand von Presse und Fernsehen kann kein Politiker einen Wahlkampf gewinnen.“ Das gelte jetzt nicht mehr, im Gegenteil – mit dem Widerstand gegen Medien lasse sich sogar der Wahlkampf um das mächtigste Amt der Welt gewinnen. Damit sei „die vierte Gewalt der Demokratie, die der Presse“, praktisch ausgehebelt (Die Zeit, 10. November).

Hierzulande hatte die Malaise des Linksliberalismus, jener Mischung aus hedonistischem Individualismus und linkem Gleichheitsstreben, bereits im Jahr 2010 begonnen. Mit seinem millionenfach verkauften Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ war es Thilo Sarrazin gelungen, anhand bis heute nicht widerlegter Zahlen und Fakten das Gerede von der harmonischen und in jeder (auch materieller) Hinsicht bereichernden Multikulti-Gesellschaft als Schimäre zu entlarven. Das „postfaktische Zeitalter“, das mittlerweile als Kampfvokabel gegen vermeintliche „Rechtspopulisten“ eingesetzt wird, hatte die polit-mediale Klasse vor Jahrzehnten selbst avant la lettre ins Leben gerufen, um ihre Staat und Nation radikal verändernden Ziele zu bemänteln. (Postfaktisch war auch die schon damals stets wiederholte Behauptung, der terroristische Islamismus habe nichts mit dem Islam zu tun.)

Wenn unsere Regierungsform partout mit einem Etikett versehen werden soll, dann gibt es eben nicht nur die „liberale“ Demokratie, sondern auch eine konservative, ja, selbst eine autoritäre Form, sofern sie (wie in Ungarn und Polen) die Verfassungsnormen einhält.

Mit Hetze, Haß und Häme wurde seinerzeit sofort der ehemalige Bundesbanker überzogen. Die „Qualitätsmedien“ – allen voran Spiegel, Zeit, Süddeutsche und Frankfurter Allgemeine – bliesen zu einer bisher nicht gekannten Menschenhatz, in der taz wünschte man dem mutigen Tabubrecher gar den Tod. Während die Bundeskanzlerin sofort wußte, daß das Buch „nicht hilfreich“ sei, obwohl sie es eingestandenermaßen nicht gelesen hatte, verstieg sich SPD-Chef Sigmar Gabriel zu der Behauptung, Sarrazins Thesen führten „in ihrer absoluten Perversion letztlich zu Euthanasie und Auschwitz“. Niemand kann bestreiten, daß die heute so beredt beklagten Haß- und Wutreden damals ihren Anfang nahmen. Es waren jedoch nicht AfD- und Pegida-Anhänger, sondern Mitglieder sämtlicher im Bundestag vertretenen Parteien und deren  Claqueure in Presse, Funk und Fernsehen, die ihr Weltbild und ihre politische Deutungsmacht wanken sahen.

Lange vor dem im Spätsommer 2015 einsetzenden Flüchtlingsstrom hatten die thersitischen Geiferer schon im Herbst des Vorjahres erneut alle Hemmungen fallengelassen und die sich in Dresden erstmals zu ihren „Abendspaziergängen“ versammelnden Pegidisten mit verbalen Kübeln übergossen. Von „Dunkeldeutschland“ und „Chaoten“ sprach Bundespräsident Joachim Gauck, von „Nazis in Nadelstreifen“ der nord­rhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD). Die Bundesminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Heiko Maas (SPD) sahen in den Demonstranten eine „Schande für Deutschland“, Cem Özdemir kanzelte sie im Namen der Grünen als „Mischpoke“ ab. Später beeilte sich Gabriel, Kritiker der Flüchtlingspolitik als „Pack“ außerhalb jedes Diskurses zu stellen.

Wen kann es wundern, daß die derart Beschimpften es den Pöblern nun mit gleicher Münze heimzahlen? Doch natürlich messen auch in diesem Fall die Vertreter der häufig nicht zu Unrecht  als „Lügenpresse“ apostrophierten Medien mit zweierlei Maß. So schrieb Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, nach den „Volksverräter“-Rufen gegen Angela Merkel und andere Teilnehmer der Feier zum Tag der Deutschen Einheit Anfang Oktober 2016: „Nein, Schmähungen gehören nicht zur Meinungsfreiheit.“

Was sich seit längerem vornehmlich in Deutschland abspielt, ist der Beginn eines Paradigmenwechsels, die Infragestellung des nach der Achtundsechziger-Revolution mit elitär-arroganter Volkspädagogik und Politischer Korrektheit durchgesetzten Weltbildes. Daß jetzt der Begriff „Demokratie“ ständig mit dem Adjektiv „liberal“ verbunden wird, zeigt, worum es geht: Die durch Masseneinwanderung, Hofierung selbst skurrilster Minoritäten sowie Umdefinition von Ehe und Familie auf Kosten und zu Lasten der arbeitenden Mehrheit grundlegend veränderte Gesellschaft soll als nicht hintergehbare Realität festgeschrieben werden. Zugleich wird diese Fragmentierung, die der sophistischen Logik folgt, es sei normal, anders zu sein, unter Beschwörung von „Weltoffenheit“ und „Toleranz“ als alternativloses Konzept der Moderne dargestellt. Letztlich, so der utopische Traum, sollen alle Nationalstaaten als Finalisierung der Geschichte in einer grenzen- und klassenlosen Weltgesellschaft aufgehen.

Dabei wird so getan, als habe das demokratische Zeitalter in Deutschland, abgesehen von der kurzlebigen Weimarer Republik, erst mit dem Sieg der Achtundsechziger begonnen. Unstrittig ist aber, daß Westdeutschland, wenn auch unter alliierter Aufsicht, von 1949 bis 1972 ebenfalls demokratisch regiert wurde. Willy Brandts Parole „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ konnte nur bedeuten, daß seine Vorgänger zwar eine mehr oder minder nationalkonservative Politik verfolgten, doch unzweifelhaft stets im Rahmen der im Grundgesetz festgelegten demokratischen Spielregeln.

Wenn unsere Regierungsform partout mit einem Etikett versehen werden soll, dann gibt es eben nicht nur die „liberale“ Demokratie, sondern auch eine konservative, ja, selbst eine autoritäre Form, sofern sie (wie in Ungarn und Polen) die Verfassungsnormen einhält. Wobei nicht zuletzt auch in Deutschland eine der stets gefeierten Säulen der Demokratie von Anfang an eine Farce war: die Gewaltenteilung. Ursprünglich für Monarchien gedacht, in denen sich königliche Regierung und vom Volk gewähltes Parlament gegenüberstehen, rekrutiert sich im Parteienstaat die Exekutive aus Mitgliedern der Legislative, während die Gesetze nicht von der gesetzgebenden Gewalt initiiert werden, sondern von der Regierung, die sich wiederum auf die jeweilige Parlamentsmehrheit stützt.

Es geschieht nicht zum erstenmal, daß ein Welt- und Menschenbild ins Wanken gerät. Nach den utopischen Aufschwüngen des Linksliberalismus steht jetzt die allmähliche Rückkehr zu Maß und Mitte, zu Vernunft und gesundem Menschenverstand an.

Von der Unabhängigkeit der Justiz als dritter Gewalt kann ebenfalls keine Rede sein, werden doch die höchsten Richterstellen durch Kungelei der im Parlament vertretenen Parteien besetzt. Selbst die öffentlich-rechtlichen Funk- und Fernsehanstalten sind dem Parteienkartell unterworfen, dessen Vertreter die Intendanten und die entscheidenden Positionen in den jeweiligen Redaktionen unter sich ausmachen. Kein Wunder also, daß die Staatssender die Meinungs- und Redefreiheit entsprechend einschränken und sich zum Lautsprecher der herrschenden Eliten machen.

Angela Merkel hat geglaubt, sie müsse Donald Trump, von Josef Joffe, dem Herausgeber der Zeit,  als „Wiedergänger Mussolinis“ apostrophiert, an die gemeinsamen westlichen Werte erinnern – darunter an den Respekt vor dem Recht und der Würde des Menschen, „unabhängig von seiner politischen Einstellung“. Wie wenig dieser Respekt in der bundesdeutschen Realität gilt, zeigt jeden Tag der Blick in die Mainstream-Presse mit ihrer Kampagne gegen den „Rechtspopulismus“ und dem vor sechzehn Jahren ausgerufenen „Kampf gegen Rechts“. Trotz Antidiskriminierungsgebot wird medial und sozial geächtet, wer vom vorgegebenen Meinungsschema abweicht. Dies widerspricht, nebenbei, nicht nur George Orwells Diktum, Freiheit sei das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen, sondern, wichtiger, auch den Artikeln vier und fünf des Grundgesetzes.

Durch das gegenwärtig landauf, landab zu hörende Lamento, Deutschland, EU-Europa, ja, die gesamte westliche Welt befinde sich in einer existentiellen Krise, wenn nicht gar im freien Fall, bewahrheitet sich einmal mehr die vorsokratische, von Martin Heidegger wieder in Erinnerung gebrachte Erkenntnis, das Sein allen Werdens sei die ewige Wiederkehr des Gleichen. Schließlich geschieht es nicht zum erstenmal, daß ein Welt- und Menschenbild ins Wanken gerät. Nach den utopischen Aufschwüngen des Linksliberalismus steht jetzt die allmähliche Rückkehr zu Maß und Mitte, zu Vernunft und gesundem Menschenverstand auf der Tagesordnung, was von manchen jedoch sofort als Neuauflage eines völkischen Nationalismus, wenn nicht gar eines Neofaschismus denunziert wird.

Wie überfällig die Wende, zumindest aber ein Innehalten und Infragestellen der bisherigen Entwicklung ist, war dem Arzt und Philosophen Karl Jaspers bereits 1951 angesichts der pluralistischen Massendemokratie und der technischen Moderne bewußt. Sein Ausgangspunkt war der Zerfall der geschichtlichen Erinnerung. Was Jaspers damals unter dem Eindruck der beiden totalitären Diktaturen schrieb, hat Gültigkeit auch für die Gegenwart: „Mit der Preisgabe der historischen Kontinuität wird das Bewußtsein des Abendlandes, wird Heimat, Herkunft, Familie gleichgültig, wird das je eigene Leben gelebt ohne Erinnerung. Durch Ausbleiben der Überlieferung, durch Beschränkung der Erziehung auf das Nützliche und die propagandistisch geformten Auffassungsschemata scheint die Geschichte gleichsam abzureißen.“






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Rivalität zwischen China und den USA („Kampf um die Vormacht“, JF 45/16).

Foto: Wolfgang Mattheuer, „Horizont“, Holzschnitt, 1968: Was sich seit längerem vornehmlich in Deutschland abspielt, ist der Beginn eines Paradigmenwechsels, die Infragestellung des nach der 68er-Revolution mit elitär-arroganter Volkspädagogik und Politischer Korrektheit durchgesetzten Weltbildes