© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/17 / 10. Februar 2017

Er war ein Totalausfall
Bilanz: Mit der Wahl eines Nachfolgers endet am Sonntag die Amtszeit des Bundespräsidenten Joachim Gauck
Thorsten Hinz

Mit der Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten im Februar 2012 verbanden sich zwei gegensätzliche Erwartungen: Die politische Klasse hielt es nach den desaströs beendeten Präsidentschaften von Horst Köhler und Christian Wulff für erforderlich, als Nachfolger eine externe Autorität aufzubieten, deren Ansehen auf sie zurückstrahlen und ihrem ramponierten Ruf aufhelfen würde. Tatsächlich stieß Gaucks Wahl in der Öffentlichkeit auf große Zustimmung (auch in dieser Zeitung), allerdings aus ganz anderen Motiven. Viele Bürger verbanden mit ihm die Hoffnung auf einen Bürgerpräsidenten, der die Funktionseliten unmißverständlich an ihre Verpflichtung auf das Allgemeinwohl erinnert.

Schon einer seiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, hatte 1992 festgestellt, die Parteien seien „machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgabe“. Zudem hatte Weizsäcker die flächendeckende Okkupation des Staates durch die Parteien und die Tendenz zur Oligarchie scharf kritisiert: „Politiker werden immer mehr von Jugend an zu parteiabhängigen Berufspolitikern, Selbständigkeit und Qualität nehmen ab.“ Die subtile Fortschreibung dieser Kritik hätte Gaucks Präsidentschaft einen konstruktiven Sinn verliehen.

Stattdessen hat er sich für die politische Klasse als bequem und nützlich erwiesen. Sie konnte das Vertrauenskapital, das er angesammelt hatte, widerspruchsfrei für sich reklamieren und ihn als öffentliche Person vollständig absorbieren. Als Bürgerrepräsentant war er ein Totalausfall. Er ließ es sich nicht nur gefallen, er trug aktiv dazu bei, eine fatale Normalität zu befestigen und die Hoffnung, den oligarchischen Parteienstaat von innen aufzuweichen, ins Leere laufen zu lassen. Diese finale Desillusionierung ist der wichtigste Ertrag seiner Präsidentschaft. Die unter drei Parteivorsitzenden ausgekungelte Kandidatur Frank-Walter Steinmeiers, der nie etwas anderes war als ein kreuzbraver Angestellter im Politikbetrieb, zählt zu ihren faulen Früchten.

Ursprünglich hatte Gauck wohl anderes und Besseres mit dem Amt vor. Kleine, spontane Vorstöße lassen das vermuten. Kanzlerin Angela Merkel hatte 2008 die Sicherheit Israels zum Teil der deutschen Staatsräson erklärt. Als Gauck im Mai 2012 beim Staatsbesuch in Israel darauf angesprochen wurde, antwortete er, er wolle sich nicht jedes Szenario ausdenken, das die Kanzlerin „in enorme Schwierigkeiten“ bringe, ihren Satz „politisch umzusetzen“. Auch die Euro-Rettungspolitik war ihm suspekt. Jedenfalls ermahnte er Merkel, ihr Konzept besser zu begründen. Doch das waren Ad-hoc-Eingebungen, die sich zu keinem politischen Programm fügten und bald versiegten.

Er verneigte sich vor der 68er-Generation

Gauck hatte sich, nachdem 2000 seine Amtszeit als Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde endete, als Wanderprediger der Freiheit einen Namen gemacht. In dem Büchlein „Freiheit. Ein Plädoyer“, das 2012 zu Beginn seiner Präsidentschaft erschien, berichtet er von westdeutschen Freunden und Bekannten, die seine „beständige Freude an der westlichen Freiheit für naiv hielten“. Sie hätten die Unfreiheit im Osten nicht erlebt. Er jedenfalls vertraue der „verändernden Kraft“ der Freiheit, „auch wenn sie angesichts so vieler und so komplexer Herausforderungen in der modernen, globalisierten Welt manchmal verlorenzugehen scheint. Ich habe ihre tiefgreifende, zur Selbstverwirklichung befähigende Dimension selbst erfahren.“ 

Zehn oder fünfzehn Jahre früher hätte man das als Ausdruck einer großartigen Erfahrung noch ernstnehmen können. 2012 aber wirkte das wie anachronistischer Schwulst. Denn inzwischen tobten die Finanz- und Eurokrise, hielten systemrelevante Banken die Demokratien im Schwitzkasten, machte der Begriff „Postdemokratie“ die Runde, fand ein Kompetenztransfers weg vom Demos hin zu intransparenten, transnationalen Institutionen statt. Der Antikommunist Gauck, der politisch durch den Ost-West-Gegensatz geprägt wurde, hat diese Entwicklungen überhaupt nicht reflektiert.

Vor allem war die „Freiheit“ für Gauck gar „nicht die eigentliche Triebfeder“ gewesen, sondern das „Vehikel“ und „Mittel zum Zweck“ gewesen, um „öffentliche Anerkennung und Bewunderung“ zu ernten; „er wollte die Früchte seiner Lebensarbeit genießen“. In dieser Beschreibung seines Biographen Mario Frank schrumpft der Freiheitsprophet zum bauernschlauen Landpfarrer, der einem Balzac-Roman entschlüpft ist. Tatsächlich hat sich der Freiheitsbegriff, den Gauck in Reden und Interviews zelebrierte, als zunehmend bieg- und anschmiegsam an die Verhältnisse erwiesen. 

Selbst wenn man die institutionellen Zwänge bedenkt, in denen ein Bundespräsident sich befindet, sowie die Redenschreiber und Berater, die ihn zu steuern versuchen, wirkte vieles, was er im Amt von sich gab, als opportunistischer Kniefall und Ausdruck persönlicher Gefallsucht. So verneigte er sich in seiner Antrittsrede vor der „68er-Generation“, die der Bundesrepublik „den mühsam errungenen Segen“ beschert hätte, „sich neu, anders und tiefer erinnern zu können“ und deshalb ein Vorbild für die „Ostdeutschen“ sei. Was er verschwieg: Wäre es nach dieser Generation gegangen, hätte es niemals eine Wiedervereinigung gegeben. Auch dem „Kampf gegen Rechts“, diesem Staatsidee-Surrogat, erwies er seine Reverenz. „Speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir mit aller Deutlichkeit: Euer Haß ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich.“

Nun, der Ansporn hat nicht weit getragen, und zwar auch deshalb nicht, weil Gauck der falschen Gefahr entgegenzitterte. In seiner Bilanzrede vom Januar 2017 räumte er ein: „Die liberale Demokratie und das politische, normative Projekt des Westens, sie stehen unter Beschuß. Es ist, als befänden wir uns alle in einer Übergangssituation: das Maß – so empfinden es viele –, in dem wir mit Unwägbarkeiten konfrontiert sind, übersteigt bislang das Maß, in dem wir fähig sind, unsere Demokratie den neuen Herausforderungen anzupassen.“

Das „normative Projekt des Westens“ ist die fixe Idee eines von Gaucks Stichwortgebern, des Historikers Heinrich August Winkler, der den modernen „Westen“ durch „die unveräußerlichen Menschenrechte, die Volkssouveränität und die repräsentative Demokratie“ bestimmt sieht und auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Französische Revolution 1789 zurückführt. Die in antiwestlichen Ressentiments befangenen Deutschen hätten sich ihm erst nach 1945 angeschlossen.

Diese schlichte Geschichtslektion hat Gauck sich zu eigen gemacht. Er vergoß Tränen, als beim Besuch von US-Präsident Obama 2013 die amerikanische Hymne erklang. Bürgerproteste gegen die Auswirkungen der Masseneinwanderung vor Ort rechnete er kurzerhand „Dunkeldeutschland“ zu. Die schlichte Einsicht, vor der Gauck hier flüchtete, lautet: Es gibt unaufhebbare Widersprüche zwischen ethischem Universalismus, praktischer Politik und den Rechten des Staatsbürgers. Winklers „Projekt“, als „normative“ Vorgabe begriffen, negiert die Demokratie und führt in die Selbstzerstörung. Kronzeuge ist Joachim Gauck, der am 22. Juni 2016 vor laufender Kamera erklärte: „Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem.“

Der Bundespräsident wiederholte genau jene Arroganz, die Bertolt Brecht nach dem 17. Juni 1953 an der SED-Führung kritisierte, als er ihr empfahl, sich ein neues Volk zu wählen, wenn sie mit dem alten nicht einverstanden sei. Brecht konnte nicht ahnen, daß wenige Jahrzehnte später die Ab- und Neuwahl von Völkern eine realistische Option sein würde.

Verzicht auf zweite Amtszeit ist die beste Entscheidung

Gaucks Präsidentschaft war im Grunde ein Selbstzitat in der Dauerschleife. Kein Wunder, daß er darüber unfreiwillig ins Komische abglitt. Es ist wie in Fellinis Casanova-Film. Am Ende sucht der von Donald Sutherland gespielte, alt gewordene Haudegen, der auf Schloß Dux sein Gnadenbrot erhält, noch einmal den großen Auftritt. Mit Pathos und ausladender Gestik deklamiert er einen Text, mit dem er in seinen Glanzzeiten die Frauen beeindruckt und gefügig gemacht hatte. Doch die Zeiten haben sich geändert, die Französische Revolution hat die Welt genauso auf den Kopf gestellt wie heute die Massenmigration, die Euro- und Finanzkrise, der Machtantritt von Trump. Das Publikum starrt ungläubig auf den Rezitator, der sich müht, den eigenen Mythos mit Leben zu erfüllen. Die einen Zuschauer schwanken zwischen Mitleid und Fremdscham, andere brechen in Gelächter aus.

Auch deshalb ist Joachim Gaucks Entschluß, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten, seine beste Entscheidung in den letzten fünf Jahren.