© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Reduzierung auf ein profitables Minusleben
Der Tierarzt Matthias Wolfschmidt plädiert für eine fundamentale Wende in der Nutztierhaltung
Dieter Menke

Die Präambel des Tierschutzgesetzes, so lobt Matthias Wolfschmidt, beginnt mit einem „schönen, würdevollen Satz“: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Papier ist geduldig. Eine Erkenntnis, die schon der Untertitel von Wolfschmidts Werk über „Das Schweinesystem“ einmal mehr bekräftigt: „Wie Tiere gequält, Bauern in den Ruin getrieben und Verbraucher getäuscht werden“.

„Elender Alltag von Kuh, Schwein und Huhn“

Wer die Lektüre bis zum Ende durchsteht, erfährt auf 240 faktensatten Seiten, wie weit die Wirklichkeit in deutschen Ställen und Schlachthöfen von hehren Proklamationen des Gesetzes entfernt ist. Der approbierte Tierarzt und Pharmazeut läßt nichts aus vom „elenden Alltag von Kuh, Schwein, Huhn“. Ihm entgeht kein Detail aus ihrem „Minusleben“, das von Melkrobotern, Stallböden ohne Stroh, Schwanzkannibalismus und dem berüchtigen Homogenisator reicht, dem Apparat, in dem jährlich 45 Millionen männliche Küken vergast werden, weil sich ihre Aufzucht „nicht lohnt“.

Der 51jährige , der seit 2005 Vizechef der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch ist, erspart seinen Lesern auch nicht Euterentzündungen, verletzte Gelenke, kupierte Schwänze und Schnäbel, abgeschliffene Zähne, eine abstoßende Palette von Organerkrankungen, und auch die betäubungslos kastrierten Ferkel sowie die altvertraute Antibiotika-Misere werden nicht vergessen.

Das von Wolfschmidt dem „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) zugeschriebene Prinzip, auf das solche Tierqualen zurückgehen ist die „vollständige Reduzierung“ des Tiers auf eine möglichst profitable betriebswirtschaftliche Funktion. Exemplarisch für die Massentierhalter, die dieses Prinzip brutal umgesetzt hätten, steht Adrianus Straathof. In den vornehmlich in Mitteldeutschland gelegenen Ställen des wegen der Mißstände in seinen Betrieben bereits mehrmals in die Schlagzeilen geratenen und 2014 mit einem Tierhalteverbot belegten niederländischen Unternehmers leben mehr als eine Million Schweine.

In Straathofs Ställen werde kein Millimeter verschwendet, damit sie ein Maximum an Zuchtsauen aufnehmen können. Die Sau sei dort ein gewaltiger länglicher Körper, rosa und schwer atmend, der nur „den Zweck des Ferkelausstoßes erfüllen soll, so viele wie möglich, auch wenn es mehr sind, als die Sau Zitzen am Bauch hat“. Die Gliedmaßen des Tieres wirken daher im Kastenstand wie überflüssige Körperteile, die man zur Ferkelproduktion nicht unbedingt benötigt. Folglich sind die Kastenstände so eng, daß die Sauen nicht jederzeit ungehindert aufstehen, sich hinlegen oder Kopf und Gliedmaßen ausstrecken können. 

Nur die quantitativen Dimensionen unterscheiden die Aufzucht von 630 Millionen Masthühnern von den Zuständen in den Schweine- und Kuhställen, nicht das Prinzip der industriellen Agrarwirtschaft: „Leistung um jeden Preis“. Nach Jahrzehnten öffentlicher Auseinandersetzungen über „Käfighühner“ und nach etlichen vom Gesetzgeber erzwungenen Verbesserungen des „Tierwohls“ sind weiterhin Hallen die Norm, in die kein Tageslicht fällt, die kleiner sind als ein 50-Meter-Schwimmbecken und in denen 40.000 Masthühner ihr nur fünf bis sechs Wochen dauerndes Leben verdämmern. Die größte deutsche Anlage entstehe derzeit im Landkreis Vorpommern-Rügen. Die Ställe sollen 966.000 Masthähnchen aufnehmen. Für jedes Tier fällt dabei die übliche Fläche von einem halben DIN-A4-Blatt ab. Von artgerechtes Verhalten, im Freien scharren und picken, im Sand baden, auf Stangen in erhöhter Position die Nacht verbringen, könne hier keine Rede sein. Gehe es doch allein darum, das „Lebensziel“ zu erreichen: ein Schlachtgewicht von 1,6 bis 2,5 Kilogramm.

„Bio“ kein Ausweg aus der „Tierqual-Ökonomie“?

„Wenn sich die Tiere ihrem Zielgewicht nähern, drängen sich 16 bis 26 auf einen einzigem Quadratmeter, dann hocken sie den größten Teil ihrer Zeit nur noch auf dem Boden, vegetieren in dunklen Ställen oder unter Kunstlicht dahin. In der Regel wird die Einstreu, auf dem die Tiere leben, während der Mastzeit nicht erneuert. Von Tag zu Tag wird sie dreckiger, feuchter, klumpiger, ihr entsteigt das stechend riechende Ammoniakgas aus dem Kot der Vögel“, schreibt Wolfschmidt. „Das Gas reizt ihre Augen und schädigt ihre Atemwegsorgane. An den Fußballen und an den Brustmuskeln vieler Tiere bilden sich schmerzhafte Entzündungen und Geschwüre, sie sind eine Eingangspforte für Krankheitserreger.“

Nur ein Drittel aller zur Schlachtung eingelieferten Hühner hätten keine Schäden an den Fußballen, andere litten infolge schneller Gewichtszunahme an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, stürben gestreßt den Herztod oder erlägen der Bauchwassersucht. Was sich hier abspiele, so zitiert Wolfschmidt den Eberswalder Agrarökologen Bernhard Hörning, sei „Qualzucht bei Nutztieren“.

Einer Nahrungsproduktion, bei der das Leid der Tiere nicht als Kollateralschaden entstehe, sondern bei der es systemimmanent sei, dürfe nach Wolfschmidts Urteil nicht die Zukunft gehören. Eine Ansicht, für die sich der Autor inzwischen auf den Göttinger Agrarwissenschaftler und Veterinärmediziner Matthias Gauly stützen kann. Gauly ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. In dessen Auftrag erstellte er 2015 ein Gutachten zur Nutztierhaltung in Deutschland, das deren „radikale Neuausrichtung“ forderte. Nicht nur um des Tierwohls willen. Auch im Interesse der Menschen in den ländlichen Regionen. Die von Brüssel forcierte „raubtierkapitalistische Nutztierökonomie“ und die geballte Marktmacht milliardenschwerer Lebensmittelkonzerne vernichtet in hohem Tempo bäuerliche Existenzen und verwandelt die Provinz zusehends in einen menschenleeren Raum.

Diese verheerenden Konsequenzen des „agrarpolitischen Dauerversagens“ der Brüsseler Bürokraten ließen sich auch mit „Gießkannensubventionen“, bei denen kleinere und mittlere Betriebe „die Dummen“ seien, nicht eindämmen. Die für Subventionen ausgegebenen 55 Milliarden Euro des EU-Agrarhaushalts offenbaren nur ein „gigantisches Marktversagen“. Ebensowenig eröffne die „Bio-Landwirtschaft“ einen Ausweg aus dem „System Tierqual-Ökonomie“, denn auch Bio-Masthühnchen leben in Ställen mit bis 50.000 Tieren.

Und selbst die „glücklichsten Schweine Deutschlands“, 3.500 Muttersauen mit 70.000 Ferkeln, bevölkern bei 27 Millionen Schweinen hierzulande ein „Promilleparadies“ im allgemeinen Nutztierelend. Für die erdrückende Masse der Nutztiere ändere sich weder durch wenige glückliche Artgenossen etwas noch durch die 7,8 Millionen Vegetarier und die 900.000 Veganer.

Stattdessen sei es schon fünf Minuten nach zwölf und allerhöchste Zeit für eine „fundamentale Wende“, mit der Wolfschmidt nicht weniger fordert als einen Systemwechsel. Für den Verbraucher, so höhnen Wahrer des Status quo, könnte dann das Steak oder die Putenbrust sehr, sehr teuer werden.

Matthias Wolfschmidt: Das Schweinesystem. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, broschiert, 240 Seiten, 18 Euro