© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Besinnung auf das Eigene
Nationalstolz und europäische Vielfalt: Ernst Moritz Arndt setzte sich für die deutsche Einheit, eine Verfassungsgebung und staatsbürgerliche Freiheiten ein
Eberhard Straub

Als „ein altes deutsches Gewissen“ stellte sich der Abgeordnete Ernst Moritz Arndt am 19. Mai 1848 der Nationalversammlung in der Paulskirche vor. Er wurde von den übrigen Vertretern des deutschen Volkes enthusiastisch willkommen geheißen, die ihm einstimmig den Dank der Nation für sein Lied: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ aussprachen. In dem Lied – während des Befreiungskriegs von drückender französischer Besatzung 1813 geschrieben – mahnte er die Deutschen, sich nicht weiter als Pommern, Westfalen, Schwaben oder Tiroler zu fühlen, sondern: „Das ganze Deutschland soll es sein!“

So sangen fortan trotzig Studenten, Turner und patriotische Bürger, die enttäuscht waren, daß ihnen die deutschen und europäischen Diplomaten 1814 auf dem Wiener Kongreß die nationale Einheit und einen Verfassungsstaat versagt hatten. Das ganze Deutschland sollte es sein, damit Einigkeit und Recht und Freiheit es den Deutschen endlich erlaubten, im europäischen Staatensystem einen geachteten Rang einnehmen zu können, um den sie das unübersichtliche „Deutschland bunt“ seit Jahrhunderten gebracht habe. 

Die erste Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben erinnert an diese Voraussetzungen. „Deutschland, Deutschland über alles“ wiederholt im Sinne Arndts, nicht Preußen, Bayern, Sachsen oder Österreich über alles wertzuschätzen, sondern sich aus dem deutschen Kleinleben zu erheben und sich freigesinnt und furchtlos um das, was alle angeht, energisch zu kümmern. Die Burschenschaften sahen in ihren Gemeinschaften der Deutschen Vaterland schon vorweg genommen. In Arndt verehrten sie den Künder der Einigkeit und Freiheit. Sie versammelten sich unter ihrem schwarzrotgoldenen Banner. Den Sinn dieser Farben deuteten die radikaldemokratischen Musensöhne: aus der Knechtschaft schwarzer Nacht durch blutigen Kampf zu den goldenen Tagen der Freiheit zu gelangen. Studentisch-kämpferische Poesie erhob diese Trikolore zur Fahne der nationalen Sehnsucht. Sie ist heute die Staatsflagge der Bundesrepublik.

Er wollte in den Deutschen ein Nationalgefühl wecken

Der Senat der Universität Greifswald hat unlängst beschlossen, auf ihren Namensbestandteil „Ernst Moritz Arndt“ zu verzichten (JF 5/17). Ernst Moritz Arndt, Student und später Professor für allgemeine Geschichte in Greifswald, ist Mitgliedern dieser akademischen Einrichtung peinlich, weil er den deutschen Nationalismus erweckt habe, der nicht zur Weltoffenheit der Universität passe.

Vor der Universität steht allerdings ein 1856 errichtetes Ehrenmal zum Gedenken an den Bürgermeister Heinrich Rubenow, dessen Einsatz es zu verdanken war, daß 1456 die Universität gegründet werden konnte. Dort ist deutlich sichtbar Ernst Moritz Arndt unter anderen Figuren als Repräsentant der Philosophischen Fakultät und ihres Vorläufers der Artistenfakultät vertreten. Die Philosophische Fakultät verstand sich als Sachwalterin aller Humaniora, die den Menschen versittlichen und verschönern. Ernst Moritz Arndt durfte den schöpferischen und bildenden Geist der Wissenschaften vom Menschen verkörpern, weil die meisten Deutschen in ihm den von allen Moden und Zwängen unabhängigen Humanisten würdigten, den freien Mann, der vorbildlich allein seinem Gewissen folgte. Seine Statue wird ihren Ehrenplatz in dem Denkmal behalten.

Die Mehrheit im Akademischen Senat vermengt im Eifer für geschichtspolitischen Impressionismus Gefühle und Begriffe; sie löst die sittliche Welt, zu der die Geschichte und die in ihr besonders herausragenden Gestalten gehören, in einem „Brei des Herzens“ auf, um mit Hegel zu reden. Die Geschichtspolitiker argumentieren wie schreckliche Vereinfacher, eben wie Banausen. Nichts in der Geschichte ist eindeutig. Geschichte zu verstehen, heißt sie zu komplizieren, um sich gar nicht unmittelbar vertrauten Zusammenhängen, Entwicklungen, Mentalitäten und Ideen annähern zu können. Ernst Moritz Arndt bemühte sich leidenschaftlich, in den Deutschen ein Nationalgefühl zu erwecken; in ihm erkannte er die Voraussetzung aus der „Erstarrung und Leerheit“ in sämtlichen öffentlichen Zuständen wieder herauszufinden, die der monarchische Absolutismus überall, nicht nur in Deutschland, verursacht hatte.

Neugierig auf die europäische Vielfalt

Die Besinnung auf die eigenen Kräfte  und den nationalen Genius, statt gedankenlose Nachahmung fremder Modelle, sollte zu Selbstbewußtsein verhelfen. Eine historisch begründete Selbstsicherheit konnte dann zur bürgerlichen Selbsttätigkeit befähigen mit dem Ziel, sich aus der Abhängigkeit und der Bevormundung staatlicher Behörden zu befreien und deren Gehilfen zu entmachten, die für effiziente Gesinnungskontrolle in Universitäten oder Zeitschriften sorgten. Nationalerziehung galt in diesem Sinne überall in Europa als Emanzipation von dem alles Leben erstickenden Maschinenstaat, in dem es nur um Kompetenzen und reibungsloses Funktionieren ging. Abstraktionen wie der Mensch gewannen über die nationale Sprache und Kultur und Eigentümlichkeit eine konkrete Anschaulichkeit. Menschen erlebten sich als Franzosen, Deutsche oder Italiener und wurden von den anderen als anderes erfahren. Sämtliche Europäer hatten sich gegen die Vorherrschaft Frankreichs gewehrt und gegen die mit ihr verbundene Idee einer vereinheitlichten Welt mit einer Sprache, gleichen Institutionen und gleichen Lebensformen. 

Die Fülle der Nationen, der Reichtum von Unterschieden begeisterte die vom französischen Druck befreiten Völker. Der Nationalismus trennte nicht, er machte die Europäer vielmehr neugierig auf die überraschende Vielfalt untereinander, die sie dennoch als eine Gemeinschaft begriffen und entdeckten. Sie lernten Sprachen wie nie zuvor, reisten mehr denn je und genossen den lebhaften Wettbewerb der Nationalkulturen mit ihrer Literatur, Musik, Kunst und ihren Wissenschaften. Die vage Idee Europa konkretisierte sich in dem Austausch der Nationalkulturen in der Vereinigung ungleicher Temperamente mit freilich ähnlicher unerschöpflicher Ausdrucksfreude. Jeder war auf besondere Art selbstverständlich ein Europäer. 

Daran hatte auch Ernst Moritz Arndt seinen Anteil. Er war im damals noch schwedischen Vorpommern geboren. Er hielt sich gerne in Schweden auf und reiste als Schwede, denn Deutschland gab es nicht, durch das Alte Reich bis nach Ungarn, lebte in Italien und beobachtete das immer noch nicht von der Revolution beruhigte Frankreich und Paris. Reisend entwickelte er sich zum vergleichenden Kulturwissenschaftler, der auf die unterschiedlichen Stimmen der Völker hörte.

Seit dem Winter 1806 verfolgte ihn die französische Polizei wegen seiner Schriften, die der Besatzungsmacht nicht gefallen konnten. Er floh nach Stockholm, später über Prag nach Moskau und Sankt Petersburg. Er kannte Europa. Unter den Europäern bevorzugte er die Schweden mit ihrer vom Absolutismus am wenigsten verzerrten Lebensart. Die Spanier bewunderte er wegen ihres Mutes im Krieg gegen die Franzosen, vor allem aber begeisterten ihn unablässig deren unerschöpflichen Dichter aus dem Siglo de Oro mit ihrer Phantasie und Geistesschärfe. 

Die Italiener blieben ihm immer die ersten unter den Europäern, weil sie wieder den Sinn für Schönheit geweckt hatten, der seit den Tagen des klassischen Griechenland in römischer Zeit und danach erloschen war. Er schätze den Dramatiker Vittorio Alfieri. Dieser war als Franzose in Turin aufgewachsen. Empört über die Revolution und die französische Fremdherrschaft entwickelte er sich zum leidenschaftlichen Italiener, bemüht einen Geist der Eintracht unter seinen Nationalverwandten zu wecken, damit sie zu politischer Einigkeit und Einheit fänden.

An den Franzosen behagten Arndt deren guter Geschmack und ihre geselligen Tugenden, die sie trotz der Revolution nicht verloren hatten. Ihn regte freilich deren Anspruch auf, den übrigen Europäern weit überlegen und deshalb berechtigt zu sein, sie zu beherrschen und zu erziehen. Gerade darin erblickte er einen Angriff auf die europäische Weltbürgerlichkeit, Humanität und Freiheit. Als Preuße, der er während der Befreiungskriege wurde, und als Deutscher hatte er noch einen besonderen Grund, die Franzosen wieder weit hinter den Rhein in ihr herkömmliches Königreich zurückzudrängen: der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze, wie er einprägsam formulierte. 

Ernst Moritz Arndts bildungsbürgerlicher Nationalstolz hatte ihn von Anbeginn den Regierungen verdächtig gemacht. Sein Einsatz für den Volkskrieg wie ihn die Spanier und die Süditaliener führten, erregte bald heftiges Unbehagen, weil die deutschen Fürsten und die meisten Aristokraten bis 1813 mit dem französischen Soldatenkaiser zusammengearbeitet hatten. Deshalb traf sie die schonungslose Verachtung Arndts, der in den Ruf geriet, ein Jakobiner, ein gefährlicher Demokrat zu sein.

Da der enttäuschte Patriot seit 1815 weiter für die deutsche Einheit und eine Verfassung warb, wurde er verdächtigt, den Umsturz zu planen. Seit 1817 Professor in Bonn, wurde ihm 1819 die Lehrbefugnis entzogen, weil er als Demagoge Studenten aufwiegele und überhaupt unter dem Volk schädliche Stimmungen schüre.

In der DDR wurde Arndts Erbe gepflegt

Ernst Moritz Arndt, der vehemente Verfechter akademischer und staatsbürgerlicher Freiheit, fiel den Machenschaften von Denunzianten zwanzig Jahre lang zum Opfer, die ihr Wächteramt über die öffentliche Ruhe sehr weit und willkürlich auslegten. Er ließ sich nicht entmutigen, er schrieb weiter, ohne seine Meinungen oder wissenschaftlichen Werke dem Geist der Zeit anzupassen. Er blieb ein Professor mit Charakter und wahrte seine Ehre. 

Die DDR hatte mit diesem freien deutschen Bürger überhaupt keine Schwierigkeiten. Seit 1954 durfte die Greifswalder Universität wieder den Namen ihres größten Humanisten führen. Ja, es wurde eindringlich geraten, bei bestimmten Anlässen Arndts Ideen und Vorstellungen zu erläutern, damit die Studenten daraus Kraft gewännen, den Erfordernissen der Gegenwart  zu genügen. Im internationalen Sozialismus fürchtete man die Nation nicht, denn er sollte sich ja in der Nation verwirklichen.

Nach dem Tode von Arndt würdigte ihn 1860 Friedrich Engels als vornehmsten Repräsentanten jener ruhmvollen Zeit, als die deutsche Nation sich wieder seit Jahrhunderten erhob und auswärtiger Unterdrückung in ihrer ganzen Kraft und Größe sich gegenüberstellte. Ernst Moritz Arndt wurde umstandslos in die Erbepflege der SED integriert. Sein liberaler, bürgerlicher Nationalismus bildete kein Hindernis. Ganz im Gegenteil, dieser hatte auch Marx, Lassalle und Engels geprägt. Die deutsche Sprache, das elementare nationale Bildungsmittel, war längst zur Sprache des Internationalismus geworden, deren Vertreter sich an Marx und Engels schulen mußten. Die deutsche Sprache galt als das neue Griechisch für die Philosophen und Künder sozialistischer Welterklärung. Deshalb blieb die deutsche Sprache eine Weltsprache, und wegen der sozialistischen Klassiker Marx und Engels wurden auch Goethe und Schiller, Hegel oder Hölderlin überall gelesen. 

Manche Eigenheiten Arndts gehörten seiner Epoche an, denn jeder ist Bürger seiner Zeit. Nur bürgerliche Ignoranten des historischen Prozesses konnten ihm daraus einen Vorwurf  machen. Sie sind mittlerweile in den Kreis der akademischen Orientierungshelfer aufgestiegen, die sich selbst dazu ermächtigen, über die Zeiten zu richten. Arndts amerikanischer Biograph James E. Dow bat 1995 Ernst Moritz Arndt nicht wie ein Zensor zu beurteilen, sondern von ihm zu lernen. Er hatte nicht mit den neuen deutschen akademischen Weltbürgern gerechnet, die in ihrem Krähwinkel nichts von ihm wissen wollen.