© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Pankraz,
F. Nietzsche und das Ende der Ideologien

Einen rabenschwarzen Kummer-Aufsatz von Hans Ulrich Gumbrecht las Pankraz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Wir sind heute“, hieß es da, „am Ende der Ideologien angekommen, das heißt – weit ausholend und ohne Polemik oder Klage gesagt – am Ende der ganz großen Gedanken, die unserem Leben kollektiven und individuellen Sinn geben sollten. Millionen bewegen sich rastlos, anscheinend ohne Ziel und Ende, so sehr wir auch bemüht sind, ihre Bewegung als Ausdruck eines politischen Willens zu deuten.“

Wie kommt der Mann dazu, fragte sich Pankraz verwundert, das Ende der Ideologien mit dem Ende der „ganz großen Gedanken“ gleichzusetzen? Was hat er denn für einen Begriff von Gedankengröße? Bewährt sich diese nicht gerade darin, daß sie die diversen Ideologie-Angebote der Neuzeit beiseite räumt, um einen eigenen, unverstellten Blick auf den Lauf der Dinge zu erlangen? Über die Welt nachdenken heißt nicht, in einen Ideologie-Laden zu gehen und sich dort die angeblich passende Garnitur einfach zu kaufen. Weltanschauung, Glaube und Einwohnung im Dasein sind nicht käuflich.

Ärgerlich an dem Gumbrecht-Aufsatz auch die ungenierte Aufteilung der Menschen in Millionenmassen einerseits, die sich „rastlos“, ohne Ziel und Verstand bewegen, und  „uns“ Ideologen andererseits,  die so sehr bemüht seien, ihre (der Millionen) „Bewegung“ „als Ausdruck eines politischen Willens zu deuten“. Nie wäre es einem Priester im christlichen Mittelalter, auch dem eitelsten Bischof nicht, eingefallen, so herablassend über seine Gemeinde zu sprechen. Aber heutige Ideologen sind keine Priester mehr. Sie halten sich für Wissenschaftler – und sind doch nur Scharlatane.


Der Begriff der Ideologie hat sich im Zeichen des Marxismus herausgebildet; er war von Anfang an antigeistig, ja geistesfeindlich gemeint. Gedanken waren demnach nichts weiter als „Widerspiegelung ökonomischer Verhältnisse“. Wer sie hegte, war kein selbständiger Nachdenker, sondern lediglich Vollzugsorgan des „Klassenkampfs“ zwischen Proletariat und Kapital unter der Führung einer politischen Partei,welche die Inhalte und Regeln bestimmte und ihre Einhaltung rigoros kontrollierte.

Heute nun, im postkommunistischen Zeitalter, da die Staaten des real sozialistischen Systems überall in der Welt spektakulär gescheitert oder (siehe China) zu bloßen Namensschildern degradiert sind, läßt sich die Deklarierung irgendeiner Ideologie zur Wissenschaft auch beim schlimmsten Willen nicht mehr aufrechterhalten. Wer es trotzdem tut, entlarvt sich als Scharlatan. Die jetzt herrschenden Ideologen wissen das mittlerweile auch und argumentieren danach. Sie geben sich nicht mehr als Wissenschaftler aus, wollen nur noch „Besserwisser“ sein. 

Sie nennen das auch „Elite“, doch das ist ein durch und durch angemaßter Titel. Ihr eingebildetes Elitesein erschöpft sich in purer Besserwisserei. Sie behaupten einfach, daß sie alles besser wissen als die von Gumbrecht angesprochenen „sich bloß bewegenden Millionen“, also die vielgeschmähten „Populisten“. Und wenn ihnen jetzt die Felle davonschwimmen und sogar der Präsident der USA populistische Töne anschlägt, rufen sie gleich das Ende der „ganz großen Gedanken“ aus. 

Gumbrecht allerdings sieht die ganz großen Gedanken noch nicht verloren. Gewisse Politiker, seufzt er, „wollen Mauern bauen, Grenzen ziehen, die anderen als ‘Migranten’ auf Distanz von sich und uns als ihren Schutzbefohlenen halten. Wäre es da nicht eine Sehnsucht wert, nur (wie ‘ein Thier’) am Leben sein zu wollen, das Leben zu bejahen und umarmen, um an seiner Intensität zu sterben? ( …) So eine Vorstellung und Sehnsucht kann uns Offenheit aufs Leben schenken, die keine Mauern, (…) verträgt und zuläßt. Nichts brauchen wir mehr, jetzt, als diese großzügige, konzentrierte Offenheit.“


Als Kronzeuge dieses Gedankens wird kein Geringerer als Friedrich Nietzsche angerufen, weil der in seinem „Zarathustra“ das nackte Leben und Überleben gefeiert und es in seinem bewußten Zusammensein mit „Thieren“ vorgelebt habe. Dazu ließe sich nun freilich so manches sagen; Pankraz hat dem Thema in seinem Nietzsche-Buch von 2006, „Das Schlußwort Zarathustras (Edition Antaios), ein ganzes Kapitel gewidmet: „Auf dem Gipfel. Zarathustra allein mit den Tieren“. Von Mauerabrissen um des Überlebens willen konnte darin aber nicht die Rede sein.

Zarathustra nimmt seine Tierfreundschaften ja gerade als Zeugen für die These, daß zum Leben und Überleben unbedingt die Abgrenzung gehört, die Hierarchisierung aller inneren Stammesverhältnisse und die Distanzierung von vorschnellen äußeren Zumutungen und Einflußnahmen. Scharf unterschieden wird zwischen wirklich schöpferischen Kreaturen und „Verbrauchern“, die sich nur zu vermehren verstehen und in schöpferische Verhältnisse eindringen, um sie auszusaugen und abzutöten. Die „Umwertung aller Werte“, die Zarathustra predigt, sei reine Notwehr der Schöpferischen.

In seinem Buch untersucht Pankraz sowohl die Licht- wie die Schattenseiten solcher Behauptungen. Er sagt keineswegs, daß Nietzsche in jedem Fall recht hat, findet aber nun – etwa bei der Lektüre von Aufsätzen wie dem von Hans Ulrich Gumbrecht –, daß man doch bitte die Kirche im Dorf lassen sollte. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn sich jemand, dem es an großen Gedanken mangelt, bei Nietzsche munitionieren will. Er sollte dabei jedoch bei der Zitiergenauigkeit bleiben und nicht eigene Einfälle über das Wesen aktueller Politik mit Nietzsche-Zitaten verwechseln.

Festzuhalten bleibt indes: Das Ende der Ideologien ist – trotz der Feststellungen von Gumbrecht – leider noch nicht da, aber es gibt immerhin einen Hoffnungsschimmer am Horizont, daß es tatsächlich nicht mehr fern ist. Sicher ist schon jetzt: Das Ende der Ideologien wird kein Ende der großen Gedanken mit sich bringen, geschweige denn der ganz großen. Eher im Gegenteil.