© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Von 0 auf 200 in 13 Sekunden
Illegale Autorennen: Tödliche Gefahr auf deutschen Straßen
Verena Inauen

Linker Fuß auf der Kupplung, rechter Fuß auf der Bremse. Die Hand auf dem Schaltknüppel, der erste Gang schon eingelegt. Die Fußgängerampel leuchtet grün in das Dunkel der Nacht. Sie schaltet um. Eine Gruppe Junggesellen spaziert noch angeheitert über den Bürgersteig, einer von ihnen bückt sich am Gehwegrand nach der gerade fallengelassenen Zigarette. 

Die Fahrer des dunklen BMW M3 und des augenscheinlich aufwendig hochgeschraubten Audi RS4 wissen, daß nun auch die Verkehrsampel die Fahrt freigeben wird. Ein Blick an den Straßenrand, genug Abstand zu dem Fußgänger, der noch immer im Rinnstein des Berliner Kurfürstendamms nach seinem Glimmstengel fingert. Keine fünf Sekunden vergehen, bevor der rechte Fuß blitzschnell auf das Gaspedal springt und die beiden Männer, wahrscheinlich noch keine 30 Jahre alt, das Rennen eröffnen.

Szenen wie aus „The Fast and the Furious“

Begonnen hat der Wettkampf schon zuvor. Nach einem kurzen Wortwechsel in einer überschaubaren Gruppierung von weiteren Autofanatikern vor einem Lokal am Tauentzien und einem vielversprechenden Handschlag steigen sie in ihre Fahrzeuge, die hinter einem Taxistand abgestellt sind. 

Langsam fahren sie an die Kreuzung vor. Der Fahrer des schwarzen M3 lehnt den Ellbogen trotz Winterkälte filmreif aus dem Fenster. Der mit verbotener Unterbodenbeleuchtung ausgestattete Audi folgt ihm auf der zweiten Spur. Gemeinsam wenden sie ihre Prestigeobjekte auf die Fahrspur stadtauswärts. Dort kommen sie an der Haltelinie nebeneinander zu stehen. Das Fenster des BMW fährt hoch, der Audi-Fahrer preßt seine linke Hand an das Lenkrad. Die Wette läuft. Es geht um die Ehre. Vielleicht auch um Geld, oft sogar um das ganze Auto.

Bastlerautos oder Liebhabermodelle sind bei den Prestigerennen auf den belebten Straßen wenig zu sehen. Deren Fanszene mißt sich mit legalen technischen Aufbesserungen und versammelt sich zu angemeldeten Treffen, wie etwa VW-Fahrer am Wörthersee. Niemals würden sie ihre Schätze in gefährlichen Rennen aufs Spiel setzen, bestätigt der Chefermittler der im Vorjahr von der Kölner Polizei installierten Spezialgruppe mit dem Namen „Projekt Rennen“, Rainer Fuchs, der JUNGEN FREIHEIT. Unter den Neonlampen der Prachtstraßen tummeln sich hingegen Fahrzeuge aus dem Luxussektor. 

Szenen wie aus dem Hollywoodstreifen „The Fast and the Furious“ spielen sich immer öfter mitten in Berlin, Köln, Frankfurt und vielen weiteren Großstädten ab. Mit leistungsstarken Wagen aus der Oberklasse treten die Männer im Schutz der Nacht gegeneinander an. Die Fahrzeuge sind ihr ganzer Stolz. Ihr Ansehen bedeutet ihnen aber noch mehr. „Viele wohnen noch zu Hause, investieren alles in technische Veränderungen ihrer Autos. Oft reicht es da kaum noch für den Sprit“, berichtet Fuchs weiter.

In 13 Sekunden beschleunigt ein M3 auf eine Geschwindigkeit von 200 Kilometern pro Stunde, stellte Auto-Bild fest. 431 PS versucht der Fahrer des sechszylindrigen Sportmodells M3 zu bändigen, mittels Chiptuning läßt sich aus dem Motor oft noch mehr herausholen. Regulär würde das Auto mehrere zehntausend Euro kosten, durch einen Leasingvertrag aber verschwindet die Summe aus dem Gedächtnis der wettfixierten Rennfahrer. Auch das vergleichbare Audi-Modell steht dem bayerischen Konkurrenten nach teuren und meist illegalen Aufbesserungsmaßnahmen beim Kostenfaktor um nichts nach. 

Die erste Sorge galt dem kaputten Auto

„Eigentlich ist es nur vom Zufall abhängig, ob bei solchen Rennen etwas passiert“, versucht Fuchs die extrem gefährlichen und unkontrollierbaren Autorennen zu beschreiben. Die meisten der Szeneangehörigen hätten zwar einen Job, fänden aber nicht genug Anerkennung im sozialen Umfeld und definierten sich über die halsbrecherischen Manöver und eigentlich viel zu kostspieligen Fahrzeuge. Zudem fehle dem Großteil  der Fahrer die notwendige Erfahrung hinter dem Steuer hierfür. „Diese Personen profilieren sich mit Autorennen, weil ihnen wenig Möglichkeiten für andere Profilierungen zur Verfügung stehen.“ 

„Ihnen fehlt wohl auch häufig schlicht und einfach Anerkennung und Zuneigung“, schätzt der Verkehrspsychologe Helmut Thielebeule die Klientel ein. Auch Einsicht würde der zu 90 Prozent aus Männern bestehenden Szene oft abgehen, ansonsten „würden sie sich nicht an illegalen Autorennen beteiligen, schon gar nicht innerhalb einer Stadt“.

Dem Zufall überlassen haben Marvin N. und Hamdi H. auch das Schicksal eines 69jährigen unbeteiligten Autofahrers in ihrem männlichen Imponiergehabe und grenzenlosem Übermut. Michael W. war sofort tot, als der Audi A6 von H. vor einem Jahr an einer Kreuzung am Berliner Kurfürstendamm ungebremst in die Fahrerseite des Jeeps raste. Hamdi H. soll unmittelbar zuvor auf 160 bis 170 Stundenkilometer beschleunigt haben. Der Jeep von W. wurde aus dem Stand auf 60 bis 70 Stundenkilometer beschleunigt und 72 Meter weit geschleudert. H.s erste Sorge nach dem Aufprall habe seinem völlig ruinierten Audi gegolten.

Die Staatsanwaltschaft Berlin verschärfte im Verlauf der Ermittlungen ihren Anklagevorwurf von Totschlag auf Mord. Erstmalig in Deutschland nach einem illegalen Straßenrennen. Der Tod eines Unbeteiligten sei billigend in Kauf genommen worden, die Männer hätten gemeingefährliche Mittel eingesetzt und aus niedrigen Beweggründen gehandelt. Der Prozeß wird am 16. Februar fortgesetzt.

Illegale Autorennen können im schlimmsten Fall wie bei Marvin N. und Hamdi H., aber auch im Fall des vor 16 Jahren bei einem Rennen verunglückten Sohns des Kölner Oberbürgermeisters Fritz Schramma tödlich enden. Auf Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen stimmte der Bundesrat einem Gesetzentwurf zu, der eine schärfere Bestrafung für Teilnehmer illegaler Rennen fordert.

Allein im Jahr 2015 kamen in Köln drei Personen durch die Machtspielchen der Raser ums Leben. Die beiden unter 25jährigen Migranten Erkan F. und Firat M. lieferten sich im April 2015 ein Wettrennen, Erkan F. erfaßte mit 50 Stundenkilometern eine 19jährige Radfahrerin. Miriam S. starb. Die Männer kamen mit zwei Jahren auf Bewährung davon. Im Jahr 2016 verzeichneten Fuchs und seine Ermittlergruppe 159 Anzeigen wegen illegaler Rennen. Einen großen Teil davon kassierten männliche türkische Migranten, meist Fahranfänger, denen das nötige Gefahrenbewußtsein fehle. 

Mehr als 60 Anzeigen wegen illegaler Rennen wurden im Vorjahr auch in Berlin erstattet, bestätigt die Hauptstadtpolizei. Die Dunkelziffer sei jedoch enorm hoch. Schauplätze wechseln aufgrund verstärkter Ermittlungen und Geschwindigkeitskontrollen immer häufiger. Die Täter kamen bislang allerdings mit zwei Punkten ins Flensburg, mehreren Wochen Fahrverbot und mit einem Bußgeld von 400 Euro davon. „Peanuts“ im Vergleich zu den Ausgaben für ihre Prachtstücke.

 Anders hingegen in der Schweiz, wo ein Gericht im Vorjahr zwei junge Männer zu mehr als sieben Jahren Haft verurteilte, nachdem sie einen Familienvater im Zuge eines illegalen Rennens mit 100 Stundenkilometern überfahren hatten. Das Urteil lautete auf „fahrlässige Tötung“.

13 Minuten Adrenalin gegen ein Menschenleben

An der Ampel am Kurfürstendamm quietschen die Reifen der beiden Sportwagen. Der angeheiterte Passant setzt gerade den Fuß auf die Gehsteigoberkante, als die Scheinwerferpaare der Duellanten an ihm vorbeizischen. Nur wenige Zentimeter trennen ihn von den qualmenden Reifen und den ausschließlich auf die Straße fokussierten jungen Männern. Ungläubig schließt er zu seinen feiernden Freunden auf, sie verschwinden in einer Kneipe am Tauentzien. Als sich die jungen Männer eine Viertelstunde später mit einem Bier in der Hand vor der Bar eine Zigarette anzünden, bremst ein dunkler BMW ab und fährt rechts ran. Zwei Wagenlängen dahinter parkt auch der Audi ein. 

13 Minuten hat das Kräftemessen gedauert. 13 Minuten Adrenalin für vernarrte junge Männer. 13 Minuten, in denen mehr als nur eine unschuldige Person hätte sterben können.





Autorennen nur ordnungswidrig

Paragraph 29 Absatz 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) verbietet Rennen mit Kraftfahrzeugen. Werden bei Autorennen Leib und Leben eines anderen Menschen oder fremdes Eigentum gefährdet oder geschädigt, kann auch wegen einer Straftat verurteilt werden: Paragraph 315 Strafgesetzbuch (StGB) sieht ein Strafmaß bis zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren vor. Absichtliches Rasen zu Rennzwecken erwähnt der Paragraph nicht. Die Teilnahme an Autorennen oder deren Organisierung gilt, sofern „nichts passiert“ ist, rechtlich nur als Ordnungswidrigkeit und wird mit 400 bzw. 500 Euro Bußgeld, einem einmonatigen Fahrverbot sowie zwei Punkten in Flensburg geahndet. Tödliche Unfälle führen für Verursacher in aller Regel nur zu einer Anklage wegen Fahrlässigkeit. Bewährungsstrafen trotz totgefahrener Opfer führten zu einer Debatte, das Strafmaß zu verschärfen, illegale Straßenrennen grundsätzlich als Straftat einzustufen und mit Haft zu bedrohen. (ru)