© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Knapp daneben
Kinder sind kostbar
Karl Heinzen

Die Leistungsgesellschaft gewährt Familien keine Schonung. Sie erwartet, daß beide Elternteile einem Beruf nachgehen. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, hat sie einen starken Anreiz gesetzt: Alleinverdiener sind kaum noch in der Lage, ihrer Familie mehr als nur das Allernötigste zu bieten. So bedauerlich dies für die Betroffenen ist, scheinen doch die Kinder darüber nicht vernachlässigt zu werden. Im Gegenteil. Forscher der University of California haben anhand von Daten aus elf Industrienationen, unter ihnen auch Deutschland, ermittelt, daß Mütter ihren Kindern bis zum 13. Lebensjahr heute im Durchschnitt 104 Minuten pro Tag widmen. Vor 50 Jahren waren es lediglich 54 Minuten. Väter hinken zwar weiterhin deutlich hinterher. Immerhin vervierfachte sich aber ihr zeitlicher Aufwand für die Kinder auf nunmehr 59 Minuten pro Tag. 

Die lieben Kleinen sind so kostbar geworden, daß man ihnen keine Kindheit mehr gönnen kann.

Diese Zahlen stehen aber nicht für die heile Welt der Familie. Hinter ihnen verbergen sich vielmehr traurige Schicksale. Kinder sind so kostbar geworden, daß man ihnen keine Kindheit mehr gönnen kann. Von klein auf sorgen Ganztagsprogramme in Kindergärten und Schulen dafür, daß Begabungen gefördert, Defizite ausgeglichen und sozial unerwünschte Verhaltensweisen abgestellt werden. Die Eltern flankieren diese Bemühungen, indem sie die materiellen Existenzgrundlagen bereitstellen, durch emotionale Zuwendung für Wohlfühlstimmung sorgen und natürlich ein Auge darauf haben, daß ihr Kind eine erfolgreiche Bildungskarriere durchläuft. Rechnet man die Zeit zusammen, die Ganztagsverwahrung, das Laufen an der elterlichen Leine und die Erledigung physiologischer Grundbedürfnisse wie Schlaf in Anspruch nehmen, kommt man zu dem Ergebnis, daß im Terminplan ab dem Eintritt in die Grundschule kein Platz für selbstbestimmtes und zweckfreies Spielen allein oder gar mit Freunden bleibt.

Diese Grausamkeit ist hinzunehmen, wenn Kinder einen Sinn haben sollen. Unsere Gesellschaft betrachtet sie als Investition in die Zukunft. Daher darf sie sich das Recht herausnehmen, sie so zu formen, daß die Rechnung auch aufgeht.