© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Veränderung in allen Bereichen der Gesellschaft
Die vor dreißig Jahren von Michail Gorbatschow angekündigte „Perestroika“ sollte eine Reform starten, die in einer Revolution mündete
Wolfgang Kaufmann

Mit Anbruch der Ära Breschnew im April 1966 begann in der Sowjetunion das sogenannte „Goldene Zeitalter der Stagnation“: Zwar rüstete das Land gewaltig auf – die Militärausgaben verdoppelten sich in den nächsten beiden Jahrzehnten –, fiel aber zugleich wirtschaftlich und technologisch immer weiter hinter den Westen zurück. Deshalb versuchten Breschnews Nachfolger Juri Andropow und Konstantin Tschernenko in ihren kurzen Amtszeiten nach 1982 mit allerlei kosmetischen Maßnahmen Verbesserungen zu erzielen, was jedoch wenig fruchtete. 

Auch nach dem Generationenwechsel in der sowjetischen Führung fuhr der ab März 1985 amtierende nächste Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, anfangs den gleichen Kurs. So glaubte er beispielsweise, die ökonomische Schwäche der UdSSR im Zuge der Bekämpfung des grassierenden Alkoholmißbrauchs kurieren zu können. Dann freilich setzte sich bei ihm und seinen Unterstützern innerhalb des pragmatischen Flügels der Parteispitze die Erkenntnis durch, daß eine tiefgreifendere Umgestaltung der Wirtschaft, genannt Perestroika, vonnöten sei.

Der sowjetischen Ökonomie wurde der Todesstoß versetzt

Der offizielle Startschuß für diese Politik fiel auf der mehrfach verschobenen Plenartagung des Zentralkomitees der KPdSU am 27. und 28. Januar 1987, als Gorbatschow erste konkrete Schritte ankündigte und zugleich verdeutlichte, keinesfalls nur Veränderungen auf ökonomischem Gebiet, sondern in allen Bereichen der Gesellschaft anzustreben. Andererseits sollten die wichtigsten Umwälzungen aber doch innerhalb des Wirtschaftssystems erfolgen. Dabei stand der Kremlchef vor dem Dilemma, daß er das realsozialistische Modell trotz Perestroika und paralleler Politik von Glasnost (Transparenz) nicht grundsätzlich in Frage stellen durfte, weil sonst Konflikte mit den immer noch reichlich vorhandenen altkommunistischen Dogmatikern drohten. Deshalb griff er teilweise auf Ideen zurück, die der chinesische Reformer Deng Xiaoping in den Jahren zuvor entwickelt hatte.

Die Staatsbetriebe erhielten mehr Eigenständigkeit und es wurden erstmals wieder seit der Zeit von Lenins Neuer Ökonomischer Politik Privatunternehmen zugelassen. Dazu kam das Geschäftsmodell der Joint Ventures: ausländische Investoren konnten sich jetzt mit sowjetischen Partnern zusammentun, wovon vor allem Kader des Geheimdienstes KGB profitierten, die bald 80 Prozent der Manager in den Joint-Venture-Unternehmen stellten. Zugleich blieb es aber bei den staatlich festgelegten Preisen und der Nichtkonvertierbarkeit des Rubels, womit die Perestroika also ein inkonsistentes Gemisch aus Plan- und Marktwirtschaft hervorbrachte. Daher stagnierte die UdSSR-Wirtschaft in der Folgezeit nicht mehr nur, sondern verfiel in beschleunigtem Tempo. Oder anders ausgedrückt: Die Mittel, mit denen Gorbatschow das schwer angeschlagene ökonomische System der Sowjetunion retten wollte, versetzten diesem den endgültigen Todesstoß.

Das zeigt die weitere Entwicklung bis zum Augustputsch von 1991, der sowohl das Ende der Perestroika als auch von Gorbatschows politischer Karriere einläutete. Während der Nationalökonom Stanislaw Schatalin Pläne vorstellte, wie man die Sowjetunion innerhalb von 500 Tagen auf westliches Niveau bringen könne, sank das Bruttoinlandsprodukt um 17 Prozent. Dafür kletterten die Verbraucherpreise um 140 Prozent nach oben, wobei zugleich nun auch Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs knapp wurden – am Ende gerieten sogar Streichhölzer zur Mangelware. Infolgedessen fanden Massenstreiks statt, welche die Situation noch zusätzlich verschärften. Deshalb sprach der Philosoph und Schriftsteller Alexander Sinowjew bald spöttisch von einer „Katastroika“ sowie „Gorbatschows Potemkinschen Dörfern“.

Zerfall der Sowjetunion machte Perestroika obsolet

Und so kam es, wie es kommen mußte: Nicht allein aufgrund des Zusammenbruchs des östlichen Vertrags- und Verteidigungsbündnisses, das die seit 1945 bestehende sowjetische Machtsphäre einschränkte und damit zugleich das Selbstverständnis einer ganzen Politikerkaste erschütterte, sondern auch angesichts der untragbaren Zustände im Lande witterten die rückwärtsgewandten Kräfte um Verteidigungsminister Dmitri Jasow und den KGB-Chef Wladimir Krjutschkow Morgenluft und versuchten schließlich, Gorbatschow zu stürzen. Das gelang ihnen zwar nicht, führte aber nachfolgend zum Zerfall der KPdSU und der Sowjetunion, der die im Rahmen der Perestroika eingeleiteten Reformen sämtlich obsolet machte.