© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Sozialstaat als der allerletzte Kitt
Kölner Studie zur „Nationalen Identität in der deutschen Bevölkerung“: Wenn selbst der Verfassungspatriotismus unter Chauvinismusverdacht gerät
Wolfgang Müller

Das Modell, bei dem sowohl die Faktorladungen als auch die Intercepts in beiden Gruppen gleichgesetzt wurden, weist eine unbefriedigende Modellgüte auf (O2korr (71) = 1405,4 (p < 00,001); RMSEA = 0,086 (0,80/0,091), CFl = 0,779, SRMR = 0,078), so daß nicht davon ausgegangen werden kann, daß vollständig skalare Invarianz vorliegt.“

Was hier wie Daniel Düsentriebs Weltformel anmutet, ist Selbstkritik an einem statistischen Modell, das die Wirklichkeit nur unzureichend objektiviert und sie nicht auf den mathematischen Punkt bringt. Kein Wunder, da es um den Proteus „Identität“ geht, dem sich Matthias Mader, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Lehrstuhl für Politische Psychologie, in seiner Untersuchung über „Stabilität und Wandel der nationalen Identität in der deutschen Bevölkerung“ (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 3/16) widmet.

Mader räumt wiederholt zerknirscht ein, daß die Zuordnung der von ihm nach ihrem Nationalgefühl Befragten einer „gewissen Unschärfe“ unterliege, seine Raster aus psychometrischen Erhebungen von 1995, 2004 und 2014 nur „mit Vorsicht“ zu vergleichen seien, was die „Belastbarkeit der Schlußfolgerungen natürlich (…) reduziert“, und daß womöglich weniger oder stärker differenzierte deutsche Identitäten nicht adäquat erfaßt würden. Das scheint aber weniger Folge vielleicht noch unausgereifter statistischer Methoden zu sein, sondern Konsequenz seiner unscharfen „Profile“ zu sein, die emotional verankerte politische Einstellungen beschreiben sollen.

Die Mehrzahl der Befragten ordnet Mader drei Profilen zu: Patriotismus sowie völkisch-kulturalistischer sowie chauvinistischer Nationalismus. In Anlehnung an den „Verfassungspatriotismus“, den Dolf Sternberger und Jürgen Habermas der Bonner Republik als Ersatzreligion empfahlen, definiert Mader idealtypischen Patriotismus als Identifikation mit den „demokratischen und humanistischen Werten“. Indikatoren für diesen patriotischen Nationalstolz sind laut eines von ihm ausgewerteten Langzeitstudien-Moduls „Nationale Identität“: „Stolz auf Demokratie, Gleichbehandlung, Sozialstaat“. 

Nur „schwache emotionale Verbundenheit“ zur Nation

Ob in dieser Kurzformel des ethischen Universalismus überhaupt noch etwas spezifisch Nationales steckt, fragt Mader nicht. Ebenso grob, Skurriles nicht scheuend, sind die unkritisch übernommenen Langzeitstudien-Vorgaben dessen, was die zweite Klasse der „völkisch-kulturalistischen Nationalisten“ kennzeichnet: Ihnen sei die „Geburt in Deutschland“ wichtig, die hierzulande herrschenden „Sitten und Gebräuche“ sowie der „Vorrang des deutschen Films“. Die Haltung der Chauvinisten schließlich ergebe sich aus Zustimmung zu Aussagen wie „Die Welt wäre besser, wenn sie wie Deutschland wäre“, „Deutschland ist besser als andere Länder“. 1995 stimmten dem 37, 2014 ansehnliche 52 Prozent zu. 

Warum diese Feststellungen indes mit dem pejorativen Begriff „Chauvinismus“ verbunden sind, ergibt sich in diesem Kontext aus Maders reflexartiger Verwendung von „vermeintlich“. Wer anders als der Patriot, der ohne Systemvergleich nur stolz auf den deutschen Sozialstaat ist, dessen nur „vermeintliche“ Vorzüge gegenüber mit den tatsächlich objektiv miserablen sozialen Sicherungssystemen in den USA, der Türkei oder Nigeria exponiert, ist „Chauvinist“, mithin so gut wie „Rassist“ oder „Nazi“. 

Immerhin entdeckt Mader unter den zwei Nationalisten-Gruppen noch eine Sonderklasse, die ausschließlich ein völkisch-kulturalistisches Verständnis von Nation pflegt, ohne patriotischen Nationalstolz und ohne Chauvinismus. Hier handle es sich „möglicherweise“ um Personen, die keine nationale Identität im Sinne einer „psychologischen Mitgliedschaft“ aufweisen. In welcher Beziehung diese minoritäre Gruppe zu jenem anderen, ebenfalls kleinen Kreis außerhalb der drei Hauptklassen steht, der nur eine „schwache emotionale Verbundenheit mit der Nation“ an den Tag legt, bleibt so unklar wie die von Mader angedeutete ideologische Schnittmenge dieser national Indifferenten mit den Verfassungspatrioten.   

Zu der aus der Sicht des Mannheimer Politologen bedenklichen „Überhöhung der eigenen Nation“ neigen jedoch inzwischen auch – und dies ist eine neue Erkenntnis –  internationalistisch konditionierte Verfassungspatrioten. Denn deren Stolz auf die funktionierende Demokratie und den Sozialstaat habe sich zwischen 1995 und 2014 chauvinistisch aufgeladen. Durchaus im Sinne von Emanuel Geibels „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Die Zahl der Verfassungspatrioten, so nannten sich 1995 schon 61 Prozent der Befragten, stieg bis 2014 auf 74 Prozent. Damit ist aber auch der Anteil jener Befragten, die entweder patriotischen Nationalstolz und Chauvinismus oder sogar Patriotismus, völkisch-kulturalistischen und chauvinistischen Nationalismus miteinander vereinen, markant gestiegen, nämlich von null Prozent 1995, als die erste Kombination noch unbekannt war, bis auf 14 Prozent 2014, und von 15 (1995) auf erstaunliche 27 Prozent 2014. 

Damit umfaßt diese Gruppe, die politische und soziale Errungenschaften der Nation der deutschen Abstammungsgemeinschaft und ihrer geschichtlich gewachsenen Kultur zuschreibt und diese anderen Nationen gegenüber für überlegen hält, den derzeit größten Bevölkerungsanteil, denn die lediglich patriotisch Nationalstolzen kommen relativ konstant seit 1995 nur auf 23 bis 25 Prozent. Verschwunden ist hingegen die 1995 noch mit bescheidenen sieben Prozent vertretene chauvinistische Untergruppe derjenigen, die sich exklusiv völkisch verstanden und nicht das geringste Verbundenheitsgefühl für die bundesrepublikanische Demokratie aufbrachten.  

Obwohl Maders Datenanalyse leicht mit der Floskel von der „neuen Unübersichtlichkeit“ zu charakterisieren ist, behauptet der Wissenschaftler selbstbewußt, daß man ihr eindeutig einen „substanziellen Wandel des Verhältnisses der Deutschen zur ihrer Nation“ entnehmen könne. Den will er festmachen an dem (biologisch bedingten?) Verschwinden der deutschnationalen Antidemokraten nach 1995 und – wesentlich überzeugender – an der Geburt einer neuen Gruppe, die eine weltanschauliche Synthese aus demokratisch grundiertem Patriotismus und missionarisch ambitioniertem Chauvinismus gewagt hat, ohne gleichzeitig dezidiert völkisch-kulturalistische Positionen zu vertreten. Die wiederum aber erheblich an Akzeptanz gewannen, da ihnen, in verknüpft mit Demokratie und Chauvinismus, ein knappes Drittel der Bevölkerung zustimmt. 

Ob dieser Bewußtseinswandel aus dem fester werdenden Willen zur Selbstbehauptung als Mehrheitsbevölkerung gegenüber der ansteigenden Migrantenflut resultiert, ob sich dabei Frontlinien zwischen dem universalistisch orientierten politisch-medialen Komplex und dem widerständigen Volk konturieren lassen, ob dies auch Auswirkungen aus der „geschichtspolitischen Neujustierung“ (Volker Kronenberg) während der rot-grünen Regierungszeit sind, oder gar der Einfluß der von Mader zitierten Wendung vom „Selbstbewußtsein einer erwachten Nation“ zu berücksichtigen ist, die Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in seiner ersten Regierungserklärung (1998) gebrauchte, das sind Fragen, die in dieser Untersuchung zwangsläufig unbeantwortet bleiben müssen.  

Sind Messungen deutscher Identität bald obsolet?

Ob sie überhaupt noch lange Relevanz haben, ist im zweiten Jahr der „Flüchtlingskrise“ angesichts täglich bedrohlicher klingender Meldungen eher zu bezweifeln. Zur Bestätigung dieser Skepsis genügt bereits eine einzige Nachricht zu Jahresbeginn. Welt Online (Ausgabe vom 19. Januar 2017) wartet im unmittelbaren Anschluß an das historische Datum des für „völkisch-kulturalistische“ Deutsche nicht bedeutungslosen Gründungstags des Bismarck-Reiches mit der morgendlichen Meldung auf, 105.000 in keiner Asylstatistik auftauchende Personen, davon 73.000 aus Syrien und dem Irak, hätten allein 2016 das „vielfältige Einwanderungsland“ (Staatsministerin Aydan Özuguz, SPD) Bundesrepublik über das weit geöffnete Schleusentor „Familiennachzug“ erreicht. Geht diese staatlich geförderte „Überrollung“ (Rüdiger Safranski) in diesem Tempo weiter, werden aufwendige Messungen deutscher Identität, zumal jenes Patriotismus, dessen Stolz sich aus dem Funktionieren von Demokratie und Rechtsstaat speiste, binnen kurzem obsolet.