© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Die deutsch-französische Freundschaft als Grundlage in einer geopolitisch unsicheren Welt
Eine Achse, die trägt
Jürgen Liminski

Seit der Wahl Donald Trumps schießen, vor allem in Deutschland, mehr Befürchtungen als Hoffnungen ins Kraut. Das geschockte Establishment schaut sich um in Europa und fragt, ob eine solche Wahl auch in Frankreich, den Niederlanden oder gar in Deutschland möglich wäre. Vor allem in Frankreich sieht man das Gespenst Le Pen um die Ecke blinzeln. Die Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen, war auch die erste, die Trump zum Wahlsieg freudig gratulierte.

Die Befürchtungen der politisch-medialen Klasse sind zum einen das Ergebnis wachsender Selbstunsicherheit, weil es an Argumenten und Programmen mangelt, zum anderen Ergebnis von Vorurteilen und Klischees über Frankreich selbst und zum dritten düstere Erfahrungen und Ahnungen im Umgang mit Rußland. Le Pen als Marionette Moskaus, das scheint der worst case zu sein. Hat sie sich nicht von Putin abhängig gemacht, indem sie von Moskau vermittelte Kredite annahm? Und ist ihr außenpolitisches Programm (raus aus Euro, Nato und EU) nicht wie von Moskau maßgeschneidert, um Europa und den Westen zu spalten?

Der jedem durchschnittlichen Journalisten zugängliche Blick hinter die Kulissen von Programm und Finanzen lädt eher zur Beschwichtigung ein: Keine französische Bank war und ist bereit, dem Front National einen Kredit zu gewähren – der zentralistische Einfluß in Paris läßt grüßen. Sie selber hätte auch einen Kredit von einer Bank in Afrika oder Asien angenommen, aber der Finanz-Arm der alten Kolonialmächte und auch der amerikanischen Finanzlobby ist lang.

Ihr Programm, vor allem von ihrem engsten Berater Florian Philippot geschneidert, ruft zwar in Moskau Entzücken hervor. Aber Philippot ist kein Yorck von Wartenburg, und die Präsidentenwahl schafft keine Tauroggen-Situation. Le Pen wird in drei Monaten zwar wahrscheinlich in die Stichwahl kommen, dort aber aus zwei Gründen scheitern: Es gibt keinen Wutstau, die Franzosen können seit drei Jahrzehnten ihre Wut auf „die da oben“ in vielen Wahlen abladen und haben das auch schon getan. Das Protestpotential ist bei gut einem Drittel auf dem Zenit angekommen, mehr als 40 Prozent wird Le Pen in der Stichwahl nicht bekommen.

Denn ihr gegenüber wird, zweitens, mit François Fillon eine personelle und programmatische Alternative stehen, die wegen der Erfahrung und eines kohärenten Programms mehr künftige Sicherheiten, inklusive mehr Eigenständigkeit gegenüber der EU und der Nato, verheißt als der Front National. Und wenn man die volatilen Trends ernst nimmt, kann es sogar passieren, daß Le Pen im ersten Wahlgang nur als Dritte hinter Emmanuel Macron landet.

Dennoch ist die Gesamtlage in Europa schwierig und unübersichtlich. Niemand weiß, wie es mit Europa weitergeht, mit dem Verhältnis zu Amerika, zu Rußland, zu China. Und vor allem zum „islamischen Totalitarismus“ (Fillon). In dieser Situation ist Europa auf seine Grundkonstanten angewiesen. Entscheidend für die Zukunft wird es deshalb sein, wie es mit der deutsch-französischen Freundschaft weitergeht. Das ist das Fundament für Europa. Alle Kandidaten für die Präsidentschaft wollen ein anderes Europa, weniger technokratisch, weniger zentralistisch, weniger supranational. Die Staaten und Nationen sollen wieder mehr Gewicht bekommen. Mehr Asterix statt Brüssel, mehr Eigenständigkeit statt Fremdbestimmung.

Aber an der deutsch-französischen Freundschaft als Grundkonstante für die Außenpolitik kommt niemand vorbei. Hier werden alle dem Rat de Gaulles folgen, der sagte: „Wenn es eine Nation gibt, mit der das französische Volk zum Besten Europas kooperieren sollte, so ist es die deutsche. In der Vergangenheit sind hier zu viele Fehler gemacht worden.“ Es war diese Erkenntnis, die zum Élysée-Vertrag, dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag am 22. Januar 1963 führte. Der Vertrag verpflichtet beide Regierungen zu Konsultationen in allen wichtigen Fragen der Außen-, Sicherheits-, Jugend- und Kulturpolitik.

Einer der Nachfolger de Gaulles, Jacques Chirac, vertiefte dessen Gedanken in einem Interview mit dem Berichterstatter, als er sagte: Es gehe um mehr als Solidarität, „Solidarität, das ist auch mehr als Freundschaft. Freundschaft ist für mich mit Blick auf die Deutschen selbstverständlich, aber Solidarität geht weiter. Ich verbinde damit ein echtes Gefühl der Brüderlichkeit. Es gibt keine Freiheit für Frankreich ohne Freiheit für Deutschland.“ So weit geht Le Pen freilich nicht. Es ist unklar, ob sie der Freundschaft mit Deutschland mehr Gewicht beimessen würde als einem Bündnis mit Rußland.

Wenn Europa vorankommen, reformiert und gestärkt werden soll, dann kann das nur geschehen, indem die beiden karolingischen Kernstaaten Frankreich und Deutschland an einem Strang ziehen. Dafür bietet der bürgerliche Kandidat mehr Gewähr als Le Pen.

Bei Fillon ist das keine Frage, er steht zum Élysée-Vertrag als Achse Europas. Das hat er auch bei seinem Besuch in Berlin in diesen Tagen bekräftigt. Wenn Europa vorankommen, das heißt reformiert und gestärkt werden soll, dann kann das nur geschehen, indem die beiden karolingischen Kernstaaten Frankreich und Deutschland an einem Strang ziehen. Dafür bietet der bürgerliche Kandidat mehr Gewähr als Marine Le Pen oder auch die Linke. Zwar berufen sich mittlerweile etliche Politiker auf den Ahnen der vereinigten Linken, Mitterrand, der im Januar 1995 vor dem Europa-Parlament in einer eindrucksvollen Rede gesagt hatte: Nationalismus bedeutet Krieg. Aber das galt und gilt nur für einen ausgrenzenden Nationalismus, nicht für Patriotismus.

Fast allen Politikern an Spree und Seine ist heute klar: Zu der deutsch-französischen Freundschaft gibt es keine vernünftige Alternative – irgendwelche Alternativen gibt es immer, wie man in Deutschland sieht. Nur ein paar Ewiggestrige oder verbohrte Nationalisten dürften noch der Meinung sein, am deutschen Wesen oder an der französischen Grandeur allein könne die Welt genesen. Der Zwang zur Gemeinsamkeit ist heute größer als der Drang zum selbstherrlichen Alleingang.

Das ist nicht nur eine Frage des politischen Willens, sondern auch der politischen Umstände und Gegebenheiten. Niemand weiß, wie es mit dem starken Putin und seinem schwachen Rußland weitergeht, niemand weiß, wie der Dritte Weltkrieg gegen den islamistischen Totalitarismus endet, niemand weiß, wie Trump das Verhältnis zu Europa oder wie sehr die Amerikaner die pazifische Option entwickeln werden. Auch hier ein weises Wort de Gaulles an seine Landsleute: „Die Deutschen wird es in Europa immer geben, die Amerikaner nur vielleicht.“ Es ist ein Wort wie aus der Gedankenwelt Bismarcks, der seinen Epigonen die Weisheit hinterließ: Die einzige Konstante der Außenpolitik ist die Geographie.

Die deutsch-französische Liaison ist eine Schicksalsgemeinschaft wie Adenauer und de Gaulle sagten, eine „Entente élémentaire“, ein Kernbündnis, wie selbst der Ostpolitiker Willy Brandt betonte. Natürlich ist das keine Garantie für die Zukunft. Man kann von den Franzosen nicht erwarten, daß sie die deutschen Umwelthysterien und die romantische Suche nach der rotgrünen Blume, die demnächst tiefrotgrün sein soll, immer richtig einordnen. Oder daß sie den moralischen Imperativ in allem, auch bei der Immigration, teilen. Und für die Deutschen ist unverständlich, warum den Franzosen eine hohe Inflation gleichgültig sein und es unbedingt 264 geschützte Käsesorten in den internationalen Handelsverträgen geben soll und warum die Franzosen seit über zehn Jahren jährlich rund 150.000 mehr Kinder gebären, obwohl sie, gemessen am Sozialprodukt, nicht mehr Geld für Familienpolitik ausgeben als Berlin.

Wir haben gemeinsame Interessen, wir haben Geschichte, Werte und Kultur gemein. Das trägt weiter als die Unterschiede in Währungsfragen oder Denkweisen. Es geht nicht nur um den Euro oder Geld, sondern um den Charakter der Zivilgesellschaft.

Es gibt, gottseidank, Unterschiede in der Mentalität, in den Sehnsüchten und in der Lebensweise. Insofern gilt für das Bewußtsein von der deutsch-französischen Freundschaft die Erkenntnis und das Postulat, das Ernest Renan 1882 in der Sorbonne über die Nation formulierte, und das leider oft nur verkürzt zitiert wird. Renan sagte: „Die Nation ist eine große Solidargemeinschaft, die durch das Gefühl für die Opfer gebildet wird, die erbracht wurden und die man noch zu erbringen bereit ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus und läßt sich dennoch in der Gegenwart durch ein greifbares Faktum zusammenfassen: die Zufriedenheit und den klar ausgedrückten Willen, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Die Existenz einer Nation ist (man verzeihe mir diese Metapher) ein tägliches Plebiszit, wie die Existenz des Individuums eine ständige Bekräftigung des Lebens ist.“

Auch die deutsch-französische Freundschaft braucht diese ständige Bekräftigung. Diese Solidargemeinschaft braucht den klar ausgedrückten Willen, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Deutschlands Zukunft liegt nicht im Osten und auch nicht in der Mitte. Sie liegt zuerst im Westen Europas. Auch wenn man in Berlin ein anderes Lebensgefühl haben mag. Das bedeutet keine Abkehr von der Mittlerrolle Deutschlands zwischen West- und Osteuropa, sondern vielmehr seine Bestärkung. Denn ein Rückfall ist immer möglich. Sicher, die Institutionen der deutsch-französischen Aussöhnung, das deutsch-französische Jugendwerk etwa oder die mehr als zweitausend Städtepartnerschaften arbeiten relativ reibungslos, und auch der franko-deutsche Sender Arte findet seine Zuschauer.

Aber vor allem jungen Deutschen und Franzosen ist heute nicht mehr so recht klar, worum es bei diesem speziellen Verhältnis eigentlich geht, warum die Achse so tragend für das europäische Gefährt sein soll. Es fehlt der emotionale Kitt, von den schwindenden Sprachkenntnissen einmal abgesehen. Daß es einmal eine deutsch-französische Erbfeindschaft gab, haben viele nie erfahren. Kein Großvater erzählt es ihnen, es gibt die Großväter in den Single-Gesellschaften ja kaum noch. An der jüngeren Generation geht die deutsch-französische Freundschaft fast wortlos vorbei. Und es gibt sie, die jungen Deutschen, die sich mit einer Flasche Rotwein und einem Baguette an den Strand setzen und meinen, das sei besonders französisch. Oder die jungen Franzosen, die „Achtung“ rufend ins Bistro treten und meinen, das sei deutsches Wesen. Die kulturellen Mauern sind immer noch hoch, Film und Fernsehen prägen mit Klischees das Deutschland- oder Frankreich-Bild. Hier hätte das Bildungspersonal auf beiden Seiten noch viel zu tun.

Sicher, es wird immer ein Stück germanischen Irrationalismus, deutscher Romantik und teutonischer Unbedingtheit geben sowie kartesianisch-schneidendes Denken, den eitlen Hang zur Gloire oder die Überheblichkeit vermeintlich siegreicher Revolutionäre. Damit muß man leben. Damit kann man leben. Carlo Schmid, Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter, brachte auf den Punkt, was zu tun ist, in guten wie in schlechten Tagen, als er schrieb: „So wie die Nation ein Plebiszit ist, das sich jeden Tag wiederholt, so ist die Freundschaft etwas, das jeden Tag durch neue Freundestat neu begründet werden muß.“

Nation und Freundschaft, das ist eine verbindende Formel für die Politik in Paris und Berlin. Heute haben Deutsche und Franzosen gemeinsame Feinde, vor allem den islamischen Totalitarismus, der unsere Gesellschaftssysteme bedroht. Wir haben aber auch gemeinsame Interessen, eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Werte, eine gemeinsame Kultur. Das trägt weiter als die Unterschiede in Währungsfragen oder Denkweisen. Es geht nicht nur um den Euro oder den Staatshaushalt. Es geht auch um den Charakter der Zivilgesellschaft, mithin um seine Menschlichkeit.

Hier sind die Wurzeln der deutsch-französischen Freundschaft. Diese Wurzeln sind zu pflegen. Ideologien, kapitalistische Gier oder auch simples Machtstreben wurden von Schuman, Adenauer, Monnet und anderen im Sinn der europäischen Kultur vor 60 Jahren eingehegt. Aus dieser Politik entstand das organisierte Europa der Vaterländer, eine Friedensidee. Sie brachte für Jahrzehnte Wohlstand und Freiheit.

Diese Idee von Europa ist in Gefahr. Es gibt kein geistiges Vakuum. Wenn die karolingischen Kernstaaten Frankreich und Deutschland sich nicht auf ihre gemeinsamen Werte besinnen, wer soll es sonst tun? Das Kernbündnis ist die Grundlage Europas. Es kann auch in der jetzigen Krise tragen.






Jürgen Liminski, Jahrgang 1950, ist Politologe, Publizist und Kommunikationswissenschaftler (www.liminski.de). Er war unter anderem Ressortleiter für Außenpolitik bei der Welt und Moderator beim Deutschlandfunk. Liminski ist Geschäftsführer des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (www.i-daf.org). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Sonntagsruhe („Die seelische Buckligkeit“, JF 16/15).

Foto: Der von Adenauer und de Gaulle 1963 im Pariser Élysée-Palast unterschriebene deutsch-französische Freundschaftsvertrag: Umwelthysterie hier, 264 geschützte Käsesorten dort