© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Dominante Leitkultur
Indien: Kirchen brennen, Christen werden drangsaliert und eine Mission hält dagegen / Premier Modi sitzt zwischen den Stühlen
Volker Keller

Welchen Weg geht Indien? Für den Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), eine der starken hindunationalistischen Bewegungen, führt er in eine Zukunft ohne fremde Religionen wie Islam und Christentum. Die Ramakrishna-Mission hält dagegen mit einem pluralen Konzept der „einen Nation“. Auch Indien polarisiert sich – eine dominante Leitkultur wird mehr und mehr gegen die Gleichberechtigung der „Fremden“ ins Feld geführt. 

Wo steht Premierminister Narendra Modi? Indische Zeitungen verbreiten, daß ihn die Ramakrishna-Mission in seiner Jugendzeit begeisterte. Er wollte sich der Organisation sogar als Mönch anschließen. Dazu kam es nicht. Aber fortan begriff er Religion nicht mehr nur als spirituelle Übung und zeitweise Weltentsagung, sondern als soziales Engagement ohne Ansehen der Person, insbesondere für die Schwächeren in der Gesellschaft. 

Premier beschreibt sich als Missionsanhänger

In seinem Wahlkampf 2011 besuchte Modi den Hauptashram der Organisation – das wichtigste Meditationszentrum – und beschrieb sich als „Follower“, als Anhänger des legendären Swami Vivekananda, dem Gründer der Mission. Er nahm den weiten, friedlichen Geist auf: Indien werde erfolgreich sein, wenn es nicht gespalten sei, sondern vereinigt als „eine Nation“. 

Ganz im Sinne der Gründer des modernen, säkularen Indiens, Jawaharlal Nehru und Mahatma Gandhi, verkündete er nach seinem Wahlsieg: „Soweit es um die Regierung geht, gibt es nur ein heiliges Buch: die Verfassung unseres Landes“, und er widersprach jeder Form von Diskriminierung aufgrund von Religion, Kaste oder Geschlecht. Nicht jeder hatte das erwartet. Modi-Kritiker mußten allerdings nach zwei Amtsjahren zugeben, daß sie dem Premier keine hindunationalistische Politik vorwerfen konnten: Er folgte strikt seinem Credo ökonomischer Effizienz ohne Reibungsverluste durch soziale Konflikte: „Zusammen mit allen. Fortschritt für alle.“ 

Zweifel bleiben trotzdem – und der Verdacht einer geheimen Agenda. Modi war in jungen Jahren Mitglied des RSS und gehört heute dessen politischem Arm, der Hindupartei Partei BJP, an. Seit seiner Präsidentschaft nehmen Haß und Gewalt gegen Moslems und Christen zu. Kirchen brennen und eine Ministerin in seiner Regierung beurteilte Menschen danach, ob sie vom indischen Gott Rama geboren wurden oder nicht, ob sie Kinder Gottes oder Bastarde seien.

Auf dem Weltverfolgungsindex 2017 der Hilfsorganisation Open Doors liegt Indien auf Platz 15. Christen litten demnach in dem Land vor allem unter „religiös motiviertem Nationalismus“. Mit Bekehrungskampagnen versuche der RSS Moslems und Christen zur Konversion und Rückkonversion zu bewegen und formuliert parallel als Ziel: In zehn Jahren sollen beide Religionen verschwunden sein. Modi hält sich raus. So wie in Gujarat, als er 2002 als Chefminister Progrome von Hindunationalisten an Muslimen nicht verhinderte. Verhält er sich wie ein Pragmatiker, der es sich mit keinem verderben will und ein Auge zudrückt? Oder ist er ein Stratege, der zuerst harmlose Hindutraditionen wie Yoga und Ayurveda mit öffentlicher Aufmerksamkeit versorgt, um schließlich die Katze der Renationalisierung aus dem Sack zu lassen? 

Entscheidend wird sein, wie die Zivilgesellschaft mit ihrem Erbe umgeht. Ob sie Ramakrishnas universelle Liebe für Menschen aller Religionen und Kasten als charakteristisch für die größte Demokratie der Welt zu schätzen weiß? Als Vivekananda (1863–1902), der spirituelle Schüler Ramakrishnas, 1893 als erster Inder eine Rede beim Weltparlament der Religionen in Chicago halten durfte, löste er Verwunderung aus. Der Vertreter einer britischen Kolonie strotzte nur so vor nationalem Selbstbewußtsein. 

Er begrüßte die junge Gastgebernation als Mönch „der ältesten Religion der Welt, einer Religion, die die Welt Toleranz und universalen Respekt zu lehren hat“. Konflikte unter den Religionen erklärte er durch ein Gleichnis: Ein Frosch lebte in einem Brunnen, den er nie verlassen hatte. Der Brunnen war seine Welt, war für ihn die ganze Welt. Eines Tages kam ein Frosch aus dem Meer in den Brunnen und erzählte von der Unendlichkeit des Meeres. Der Brunnenfrosch glaubte ihm erst, als der andere ihn zum Meer mitnahm. Was Vivekananda meinte: Intoleranz und Respektlosigkeit zeigen, daß eine Religionsgemeinschaft im Brunnen sitzt. Wer Gott richtig versteht, erkennt seine unerschöpflichen Möglichkeiten. Er bringt auch die anderen Religionen und Völker hervor. 

Konservative sehen Hindugesellschaft bedroht

Doch wie sollte eine so vielfältige Nation mit 29 Bundesstaaten, 1.579 verschiedenen Sprachen und unzähligen Haupt- und Untergötter-Kulten anders zusammengehalten werden können als durch ein pluralistisches Konzept von Religionen und Ethnien? Doch so denkt in Indien nicht jeder. RSS und BJP sehen die Hindugesellschaft durch die bisher geübte Toleranz gegenüber „fremden Religionen“ bedroht. 

Die christlichen Kirchen macht verdächtig, daß sie aus dem Ausland Geld bekommen, und vor allem, daß sie gerade unter den aus der Kastengesellschaft Ausgeschlossenen, den Dalits, Missionserfolge erzielen.

 Auch wenn die Verfassung Diskriminierung von „Unberührbaren“ verbietet und ihnen als geschützte Kasten besondere Rechte wie Zugang zu Bildung oder zu quotierten staatlichen und privaten Arbeitsplätzen gewährt, gelten sie traditionell eingestellten Kasten-Hindus weiterhin als Minderwertige, als Unreine, die man meidet, denen Teilnahme am religiösen Kult nicht gestattet wird und die ihr Existenzrecht einzig als Sklavenarbeiter der Kasten-Hindus haben. Wer als Dalit (Nachfahren der indischen Ureinwohner) Christ wird, scheidet formal aus der Kastenordnung aus – konservative Nationalisten sehen darin einen Angriff auf die gottgegebene Ordnung der Gesellschaft. Für sie setzen die Europäer nun nach dem britischen Abzug 1947 ihre Eroberung Indiens mit anderen Mitteln fort. 

Daß eine Milliarde Hindus von Kirchen, die nicht mehr als 34 Millionen Mitglieder aufbringen, bedroht werden kann, erscheint als Ablenkung von dem tatsächlichen Problem: Ein Drittel der Menschen lebt unter der Armutsgrenze. Darunter befinden sich viele der „Unberührbaren“. Groß klang das Versprechen der Globalisierungsbefürworter: Mehr Handel, besseres Leben für alle! Unten kam wenig an. Oben viel. Der indische Stahlproduzent Lakshmi Mittal schenkte seiner Tochter die Ausrichtung ihrer Hochzeit – im Schloß Versailles für 60 Millionen Euro. 

Was Inder am Christentum und am Islam befremdet, ist der Glaube an ein exklusives Heil. Selbst Mahatma Gandhi, der das Neue Testament schätzte und die Liebesethik Jesu in sein Denken aufnahm, zeigte sich angewidert durch hochmütige britische Missionare, die indische Religionen lauthals verachteten und ihnen aberkannten, Heilswege zu sein. Skeptiker warnen, daß ein behauptetes Wahrheitsmonopol Gewalt und Unterwerfung von Nichtchristen legitimiert. Ramakrishna ist dagegen ein typischer Vertreter der indischen Religionswelt. Er eignete sich andere Religionen an. In Indien sieht man in ihm einen Heiligen, der ununterbrochen und vollkommen im Göttlichen weilte.

Wer dem anderen dient, dient Gott

An Ramakrishna (1836–1886) läßt sich ein Merkmal des Hinduismus erkennen: seine Inklusivität und Variabilität. Ramakrishna, mit bürgerlichem Namen Gadadhar, vagabundierte durch die Religionen, je nach Lebenslage entdeckte er das Göttliche immer wieder neu (siehe Infokasten). In allen Religionen drückt sich die eine Essenz des Universums aus. Diese Erfahrung Ramakrishnas brachte Vivekananda auf den philosophischen Begriff einer absoluten Realität, in der sich sowohl alle einzelnen Gottesvorstellungen auflösen wie auch alle Unterschiede, die unerleuchtete Menschen vornehmen: Ethnien, Kasten, Geschlechter, Religionsgemeinschaften – alles ist im Wesen eins und verdient gleiche Achtung und Mitgefühl. Wer dem anderen dient, dient Gott.

Indische Religiosität, die in mystischer Schau alles Fremde als das Eigene erkennt, kann eigentlich nicht für politischen Kampf instrumentalisiert werden, Radikalen aber geht es nicht um Wahrheit, sondern um Nützlichkeit. Religion wird Mittel zum Zwecke der Macht – um jeden Preis. 

Der Mörder Mahatma Gandhis kam aus den Reihen des RSS. Premierminister Modi strebt nach Wirtschaftswachstum und Aufwertung vernachlässigter Hindutraditionen – ohne den Frieden der Religionen und Volksgruppen wird er Indien nicht in eine erfolgreiche Zukunft führen.





Junge Inder begegnen ihrer Religion zuerst in der Familie

Indische Kinder erlernen Religion durch die häusliche Zeremonie zu Ehren des Familiengottes. Der Gott der Familie Ramakrishnas war Rama, eine Inkarnation Vishnus. Rama gilt als die Verkörperung des vollkommenen Menschen: Er ist tapfer und voller Kraft, trägt einen Bogen, um für die Wahrheit einzutreten und die guten Menschen zu beschützen. Die Dämonen bekämpft er. Hanuman, der Affengott, tut sich als sein treuer Begleiter und Diener hervor. Täglich feierte Vater Khudiram, ein Tempelpriester, eine Ehrerweisung („Puja“) mit einer kleinen Statue von Rama. Durch einen Weiheritus zog die Gottheit in die Statue ein. Höhepunkt jeder Feier zu Hause und jedes Tempelbesuches ist Darshana: Blickkontakt mit den Augen der Gottheit zu bekommen. Der junge Ramakrishna erwies sich als außergewöhnlich empfänglich für die Begegnung mit dem Familiengott. Es kam vor, daß er in eine Ekstase geriet, die ihn auf den Boden warf und in eine Art Ohnmacht versetzte, aber innerlich war er dabei hellwach und spürte, wie eine übermenschliche Macht von ihm Besitz ergriff. Mit neun Jahren erhielt der Junge vom Vater die Priesterweihe. Ihm wurde die heilige Schnur umgelegt und damit gehörte er offiziell der höchsten Kaste der Brahmanen, der Priester, an. Trotzdem wurde Gadadhar Rama bald untreu. Er identifizierte sich voll und ganz mit Hanuman, dem Affengott, und tobte sich aus. Er sprang herum wie ein Affe und entdeckte seine ungezähmte Natur. Hanuman war allerdings nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu Kali, der schwarzen Göttin. Keine der anderen himmlischen Gestalten stand für ihn auf gleicher Stufe mit seiner „Mutter“. Ihr allein galt sein letztes Wort mit dem letzten Ausatmen: „Kali!“, flehte er und starb in ihren vier Armen.