© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

„Erschreckend bewußt geworden“
Nach 42 Jahren tritt Erika Steinbach enttäuscht aus der CDU aus. Die mediale Aufmerksamkeit war groß. Ihre Bilanz ist bitter
Moritz Schwarz

Frau Steinbach, in welche CDU sind Sie 1974 eingetreten und aus welcher CDU sind Sie 2017 ausgetreten?

Erika Steinbach: Eingetreten bin ich in die hessische CDU, als Alfred Dregger deren Landesvorsitzender war. Es war insbesondere das politische Fundament mit der Trias aus christlich-sozialem, liberalem und des wertkonservativen Politikansatzes, das mich zu diesem Entschluß brachte. Keine andere Partei hatte das zu bieten. Und keine andere Partei machte so deutlich, daß der Rechtsstaat, die Umsetzung des Rechts im Staate, eine elementare Grundlage unserer Demokratie ist. Ausgetreten bin ich jetzt aus einer CDU, die Überzeugungen und Lösungen über Bord wirft, wenn der Wind sich dreht: Wehrpflicht, Energiesicherheit, Innere und Äußere Sicherheit, solide Wirtschaft in der EU. Seit der Regierungsübernahme 2005 durch Bundeskanzlerin Merkel hat sich das politische Agieren der CDU im Laufe der Jahre beunruhigend verändert.

Sie beschreiben in der „Welt am Sonntag“, in der Sie Ihren Austritt bekanntgegeben haben, das Konservative in der CDU als marginalisiert und stigmatisiert. 

Steinbach: Nehmen Sie einfach das Wahlprogramm 2013, Seite 73: „CDU und CSU treten dafür ein, daß die entfallenen Grenzkontrollen im Schengen-Raum weiterhin durch geeignete Maßnahmen ausgeglichen werden, etwa durch anlaßunabhängige Kontrollen entlang der Grenze. Wir wollen grenzüberschreitende Kriminalität besser verhindern beziehungsweise verfolgen sowie unkontrollierte Zuwanderung besser beschränken.“ Das genaue Gegenteil ist der Fall. Das Konservative ist das Bewahrende, wenn das Neue nicht besser ist als das Bestehende. Das Konservative ist die Veränderung an der Spitze des Fortschritts, wenn das Neue das erkennbar Bessere gegenüber dem Veralteten ist.

Wie ist die Stimmung der verbliebenen Konservativen in der Union? 

Steinbach: Ich denke, die verbliebenen Konservativen sind Konservative in der Union – und bleiben das auch. Es gibt natürlich auch viel mehr konservativ denkende Abgeordnete in der Union, als sie sich bei verschiedenen Gelegenheiten als solche darstellen würden. Es gilt schließlich nicht als schick, sich von der in den Medien als gewünschtes Abgeordnetenbild skizzierten Blaupause deutlich zu unterscheiden.

Als konkrete Gründe für Ihren Austritt nennen Sie die Kehrtwenden und Rechtsbrüche der Politik Kanzlerin Merkels. Warum aber sind Sie dann nicht schon 2010 (Eurorettung), 2011 (Energiewende) oder 2015 („Flüchtlingskrise“) ausgetreten? 

Steinbach: Es war immer eine Abwägungsfrage, bei der es mir um das Wohlergehen unseres Vaterlandes ging. In der Eurokrise gehen? Zunächst schien mir wichtiger, mit vereinten Kräften die Menschen in Deutschland vor dem Schlimmsten zu bewahren. Die europäische Schuldenkrise etwa schien die deutschen Sparer zu bedrohen, wenn Sie sich erinnern. Die Energiewende? Ein revidierbarer Irrweg. Vielleicht werden wir auch auf dem Kraftwerkssektor wieder ein Technologieführer sein – eines Tages. Aber die Veränderung des Staatsvolkes vor dem Hintergrund der in Teilen nicht gelungenen Integration früherer Einwanderungswellen, das halte ich für irreversibel. Insgesamt aber ist mir diese Abfolge von Entscheidungen an Recht und Verträgen vorbei mit ihrer ganzen beunruhigenden Tragweite erst in der Gesamtschau erschreckend bewußt geworden. 

Aufgabe des Bundestags ist es, diese Rechtsbrüche der Regierung aufzuzeigen und zu verhindern. Warum geschieht das nicht? 

Steinbach: Das Agieren der Bundesregierung in der Migrationsfrage kommt der linken politischen Zielsetzung, aber auch den Politikansätzen der Grünen sehr entgegen. „No borders“, „keine Grenzen“, ist eine Forderung der extremen Linken, auch wenn durch die millionenfach eingeströmten Niedriglohnkräfte vor allem die Wählerschaft linker Parteien unter Druck geraten wird. Oppositionskräfte, die solche Entwicklungen anprangern würden, gibt es – noch – nicht im Bundestag. In der Frage der Alimentierung der linken Regierung in Athen verhält es sich ganz ähnlich.

In welcher Situation befindet sich Deutschland also, wenn das Parlament die Regierung partiell nicht mehr korrigiert?

Steinbach: In einem Zustand gewählter Sprachlosigkeit. Ich denke jedoch, daß der Souverän dies korrigieren wird.

Sie haben über Unionsfraktionschef Volker Kauder gesagt, er verstehe sich als „Vollzugsbeamter der Kanzlerin“. Wie müßte er sich statt dessen verstehen? 

Steinbach: Volker Kauder ist absolut kritiklos gegenüber jedweder Politik der Kanzlerin. Das ist zwar auch Teil seiner Aufgabe, aber eben nur ein Teil. Er hat auch die Aufgabe, massive Besorgnisse und die Forderung nach Einhaltung von Positionen der Fraktion gegenüber der Bundesregierung durchzusetzen, wenn es denn einen Dissens gibt – wie ich ihn etwa bei der Alimentierung der Elektromobilität erlebt habe. 

Warum kümmert es Frau Merkel und die Mehrheit in der Fraktion nicht, Deutschland so schicksalhaften Entwicklungen wie einer Euro-Transferunion und der Masseneinwanderung auszuliefern? 

Steinbach: Politik ist immer eine Aneinanderreihung von Kompromissen, und die Versuchung für jeden Politiker ist groß, deren Inhalte vorzugeben. Das wird dann prekär, wenn dabei grundlegende Verträge gebrochen werden. Es kann und darf nicht sein, daß in einem Fußballverein der Kreisklasse die Spielregeln besser eingehalten werden als die Gesetze unseres Landes durch die Bundesregierung.

Frau Merkel verkündete einst: „Multikulti ist gescheitert!“ Heute macht sie eine „Flüchtlingspolitik“, die de facto zu „Multikulti“ führt. Bemerkt sie den Widerspruch nicht? 

Steinbach: Die inneren Überzeugungen der Kanzlerin kann ich nicht erklären – und kann ich mir nicht erklären. Ich sehe diesen Widerspruch allerdings genauso wie Sie.

Frau Merkel argumentiert gerne mit dem „christlichen Menschenbild“. Was denken Sie darüber?

Steinbach: Nun, das christliche Menschenbild ist von einer Verantwortung gegenüber dem Nächsten geprägt. Der Nächste mag der Flüchtling und seine Familie sein, die angesichts der Bedrohung von Leib und Leben gerettet werden sollten. In der Abwägung von Migranten aus vieler Herren Länder, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft zu uns kommen wollen, und den Menschen im eigenen Lande, die Tag für Tag im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen, ihre Steuern bezahlen und so Transferleistungen ermöglichen, liegt die Verantwortung des „christlichen Menschenbildes“ vielleicht auch bei den eigenen Arbeitern und Angestellten.

So mancher Beobachter glaubt, die CDU sei im Grunde froh, Sie nun los zu sein. 

Steinbach: Ein Kritiker in den eigenen Reihen ist immer lästiger als ein Kritiker, der die eigenen Reihen verläßt. Ich wollte allerdings nicht lästig sein, sondern mußte entscheiden, ob ich eine für Deutschland elementare Entwicklung mittragen kann oder nicht. Es kann schon sein, daß mein Austritt für die CDU eine Erleichterung ist.

In Politik und Medien wurden Ihre Zuwortmeldungen immer wieder heftig kritisiert. Etwa wegen eines getwitterten Fotos, das ein weißes Kind inmitten von Dunkelhäutigen zeigt, das Sie mit dem Kommentar „Deutschland im Jahr 2030“ versehen hatten. Was war Ihre Absicht dabei? 

Steinbach: Auf diesem Foto gehen alle sehr freundlich miteinander um. Mit solchen Fotos – dieses stand schon Jahre im Netz – verschaffen sich die Menschen Gehör für ihre Sorgen. Sie trauen sich zumindest, ein Scherzbild weiterzuleiten. Ich wollte den Menschen signalisieren, daß ich ihre Sorgen ernst nehme. Oder das Zitat von Helmut Schmidt von 1981: „Wir können nicht mehr Ausländer verdauen, das gibt Mord und Totschlag.“ Ein guter Mann in der falschen Partei, pflegten wir zu sagen. An seinem Todestag betrauerten ihn auch die, die ihn einst gestürzt hatten. Ich habe an eines seiner vielen Zitate erinnert, wie auch andere Journalisten an diesem Tage. Das Thema der Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen beschäftigte Helmut Schmidt sehr engagiert bis in sein letztes Lebensjahr hinein. Das auszublenden würde ihm nicht gerecht. Ein Journalist erklärte mir, daß Journalisten dies dürften, ich aber nicht.

In den Medien werden Sie häufig als Unperson dargestellt. Der Deutschlandfunk etwa bezeichnete Sie als „Querulantin“.

Steinbach: Manche Journalisten glauben an ihren Erziehungsauftrag gegenüber dem deutschen Volke, da könnte das mit hineingehören. Was macht man mit einem Politiker, der nicht die „richtige“ Meinung vertritt? Leider sind viele dazu übergegangen, nicht journalistisch zu berichten, sondern unter dem Vorwand journalistischer Berichterstattung Meinungsbeiträge zu verfassen. Beides geht – man sollte nur beides trennen und jeweils klar benennen. Anfangs habe ich mich über derartige Klassifizierungen empört, jetzt nicht mehr. Anders als meine Eltern, die damit nie zurechtgekommen sind. Nach einem üblen Artikel empörte sich mein Vater mit: „Aber so ist die Erika doch nicht!“ 

Als Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV) haben Sie stets Ihr gutes Verhältnis zu Angela Merkel betont. 

Steinbach: Als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen habe ich von Anbeginn ein vertrauensvolles Verhältnis zur Bundeskanzlerin gehabt. Sie hat mein zentrales Anliegen, eine dauerhafte Gedenkstätte für das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen in Berlin zu schaffen, stets unterstützt und sich auch für einen nationalen Gedenktag für diesen epochalen Vorgang eingesetzt. Ihr war und ist bewußt, daß die Anliegen der Vertriebenen Sache des gesamten deutschen Volkes sind. Nicht ohne Grund habe ich ihr aus Überzeugung am Ende meiner Präsidentschaft im BdV die höchste Auszeichnung unseres Verbandes, die Ehrenplakette, in einer Sonderfassung in Gold verliehen.

Das „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV) ist letztlich nur um den Preis seiner politisch korrekten Einrahmung und Neutralisierung durchzusetzen gewesen. Ist das nicht eigentlich ein Skandal?

Steinbach: Das „Zentrum gegen Vertreibungen“, das „sichtbare Zeichen“, die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist zunächst eine Aufgabe des gesamten deutschen Volkes. Damit ist richtig, daß es eine Bundesstiftung geworden ist. Diese muß zunächst ein Konzept vorlegen, was in den vergangenen Jahren nicht gelungen ist. Ich traue jedoch dem Team unter der Leitung der neuen Direktorin, Frau Gundula Bavendamm, zu, in relativ kurzer Zeit brauchbare Arbeit abzuliefern. Nach dem erfolgten Richtfest des Gebäudes ist die Dauerausstellung nun das nächste große Ziel. Wir sollten das Ergebnis nach der vorgelegten Arbeit bewerten. Ich bin zuversichtlich, daß eine gute Erinnerungsstätte daraus wird.

2005 hatte Frau Merkel Unterstützung für das ZgV versprochen. Inzwischen schreiben wir 2017. Haben Frau Merkel und die CDU-Fraktion das Projekt wirklich ehrlich unterstützt und vorangetrieben? 

Steinbach: Wer ein solches Projekt realisieren will, kann sich nicht nur auf Engel verlassen, die von hinten schieben. Viel, sehr viel gilt es allein zu organisieren. Aber ohne die Unterstützung Tausender Heimatvertriebener, ohne die mehr als vierhundert Patenstädte und unsere Patenländer sowie von ganz herausragenden Persönlichkeiten der deutschen und europäischen Zivilgesellschaft, aber auch von Peter Glotz, Milan Horácek, Bernd Neumann und vielen, vielen anderen – darunter auch die Bundeskanzlerin – würde es heute nicht die im Bau befindliche Gedenkeinrichtung für einen gravierenden und einschneidenden Teil deutscher Geschichte geben. Der Weg war zäh und mühsam. Aber große Projekte sind das zumeist. Selbst das Holocaust-Mahnmal hatte einen Weg von 15 Jahren bis zur Vollendung hinter sich.

Wie bewerten Sie den Einsatz Merkels und der Union für die Vertriebenen insgesamt? Als ehrlich oder als kritikwürdig? 

Steinbach: Angela Merkel muß viele Bälle im Spiel behalten, national wie international. Sie hat mich in den Vertriebenenangelegenheiten so unterstützt wie ich es erwartet habe, und ich habe ihr dafür auch meinen und den Dank der deutschen Heimatvertriebenen übermittelt. Daran gibt es meinerseits nichts zurückzunehmen.

Sie haben geäußert, nicht in die AfD übertreten zu wollen. Warum ist das kein Thema für Sie? 

Steinbach: Daß ich Einzelpositionen der CDU – soweit noch vorhanden – nicht bereit bin mitzutragen ist das eine. Das andere wäre, offen gegen die Kollegen Stellung zu beziehen, die mich gestern noch unterstützt haben und mit mir für unsere christlich-sozialen, liberalen und wertkonservativen Überzeugungen eingetreten sind. Das will ich nicht. Zudem wäre das ein tatsächlicher Wahlbetrug gegenüber meinen Wählern. Als Parteilose werde ich weiter für die Grundlagen eintreten, für die ich Wahlkampf gemacht habe, die aber heute leider von der CDU nicht mehr vertreten werden. Damit befinde ich mich in Kontinuität zu meinen seinerzeitigen Aussagen. 

Glauben Sie, daß die AfD Erfolg haben wird, oder wird sie sich selbst zerstören? 

Steinbach: Jeder Vergleich hinkt, aber ich sehe die AfD derzeit in einer ähnlichen Lage wie die Grünen der Anfangszeit, als sie noch keine der „etablierten Parteien“ waren. Auch da gab es Flügelkämpfe der Fundis gegen die Realos, wobei sich im Politikbetrieb das radikale Element in der Regel schnell verliert. Ich sehe die AfD in den nächsten Deutschen Bundestag als Oppositionsfraktion einrücken. Das begrüße ich, da jedes Parlament eine kämpferische Opposition braucht. In den gravierenden Fragen der letzten Jahre gab es tragischerweise praktisch keine Opposition mehr.

Wie sehen Sie die Zukunft der CDU? 

Steinbach: Die CDU wird sich Gedanken machen müssen, wie sie verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen kann. Das geht in der Regel am besten, indem man sich auf die eigenen Wurzeln besinnt. Dazu gehört elementar und unverzichtbar die absolute Einhaltung von Recht und Gesetz. Beliebigkeit in Sachfragen und fahrlässiger Umgang mit dem Recht, unter der Zielsetzung des geschmeidigen Machterhaltes, kann das nicht leisten. Eine wirkliche Regeneration wird nur als Oppositionspartei gelingen. 






Erika Steinbach, ist seit 1990 Abgeordnete des Deutschen Bundestages und war zuletzt Menschenrechtsbeauftragte  der CDU/CSU-Fraktion. Sie war zeitweilig Mitglied des Bundes- und Fraktionsvorstands. Am 15. Januar 2017 trat sie aus der CDU aus, der sie seit 1974 angehört hatte. Sie steht der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ vor und war von 1998 bis 2014 Präsidentin des Bundes der Vertriebenen. 1943 in Rahmel/Westpreußen geboren, wuchs sie in Hanau auf, studierte Verwaltungswissenschaften und Musik und spielte als Geigerin in einem Berufsorchester, bevor sie als Informatikerin tätig war. 

Foto: Ehemalige Unions-Politikerin und BdV-Präsidentin Steinbach: „Ausgetreten bin ich aus einer CDU, die Überzeugungen und Lösungen über Bord wirft, sobald der Wind sich dreht“

 

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