© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

Zeitgeist in Stein und Beton
Norbert Borrmanns Vermächtniswerk zur politischen Architektur in Deutschland von 1800 bis heute
Claus-M. Wolfschlag

Architektur hat primär die Aufgabe, Menschen eine sichere Wohnbehausung zu bieten. Sie ermöglicht Schutz vor der Witterung, vor Regen, Schnee, Kälte und Hitze, aber auch vor dem Zugriff Fremder auf die Privatsphäre und das persönliche Eigentum. Darüber hinaus aber hat Architektur auch seit Jahrtausenden eine Symbolfunktion religiöser und politischer Art. 

Dieser letztgenannten Aufgabe widmet sich das Buch des 2016 verstorbenen Kunsthistorikers Norbert Borrmann. Mit umfassender Bebilderung präsentiert „Identität & Gedächtnis“ zahlreiche deutsche Denkmale und Beispiele politischer Architektur von 1800 bis zur Gegenwart: „Ein Bauwerk ist nie nur das Resultat reiner Zweckerfüllung oder der Suche nach der besten Form. Selbst im unscheinbarsten Haus spiegeln sich Geist und Lebensgefühl seiner Zeit wider.“ 

Der explizit politische Charakter eines Hauses zeige sich, so Borrmann, aber dann darin, daß durch sie reale Machtverhältnisse zum Ausdruck gebracht werden. So waren viele barocke Stadtanlagen axial auf das Schloß, also den Herrschersitz des Monarchen, ausgerichtet. Nach dem Ende des monarchischen Bezugs Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Herrscherarchitektur zunehmend durch eine Gemeinschaftsarchitektur abgelöst, in der abstraktere, kollektive, nationale Werte versinnbildlicht werden sollten.

Borrmanns historische Schau beginnt mit einem Gebäude, das nicht als politisches Symbol geplant worden ist, sondern sich durch die historischen Umstände erst dazu entwickelte. Das 1791 fertiggestellte Brandenburger Tor in Berlin, der erste klassizistische Bau der Stadt, diente ursprünglich als Steuereinnahme- und Wachstation. Zum politisch bedeutendsten Bauwerk Deutschlands wurde es erst durch die zahlreichen Paraden, angefangen mit Napoleons Einzug 1806, und die Bilder der vom verlogenen „antifaschistischen Schutzwall“ geteilten deutschen Hauptstadt während des „Kalten Krieges“. 

„Verneinung von Macht“ in der Nachkriegsarchitektur

Anders verhält es sich mit der bewußt geplanten Denkmalsarchitektur, angefangen mit den nationalen Erinnerungsorten im Gefolge der Befreiungskriege gegen Napoleon. Borrmann nennt unter anderem die Walhalla bei Regensburg, die Befreiungshalle in Kelheim und die Ruhmeshalle in München. Mit der Reichseinigung 1871 kam es zu einem Denkmalsboom, der dazu diente, das nationale Bewußtsein des zusammenwachsenden Landes zu stärken. Ernst von Bandel konnte sein Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald vollenden. Das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim entstand als allegorische Verkörperung des erstarkten Deutschland. Die Berliner Siegessäule erinnerte an die erfolgreichen Waffengänge von 1866 und 1870/71. 

Neben zahlreichen Bismarcktürmen, deren bekanntestes Modell die „Götterdämmerung“ von Wilhelm Kreis war, wurde vor allem Kaiser Wilhelm I. in mehreren Großanlagen als Vater der Nation verehrt, so beim Kyffhäuserdenkmal und beim „Deutschen Eck“ in Koblenz. Die Kultbauten des Kaiserreiches endeten mit der beeindruckenden archaisch gestalteten Anlage des Leipziger Völkerschlachtdenkmals von Bruno Schmitz. Da nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die finanziellen Mittel für weitere Großprojekte fehlten, verlegte man in der Weimarer Republik die Erinnerung an die Opfer von „Vierzehnachtzehn“ zuerst auf kleinere lokale Kriegerdenkmäler. Erst langsam wurden größere Anlagen geplant, wie das Ehrenmal am Nürnberger Luitpoldhain, die umgestaltete Neue Wache in Berlin und das im Laufe der Bundesrepublik immer stärker verwässerte und internationalisierte Marine-Ehrenmal in Laboe. 

Wilhelm Kreis’ in Bad Berka geplantes monumentales Reichsehrenmal wurde nicht mehr realisiert, das Tannenberg-Denkmal in Ostpreußen mit der Hindenburg-Gruft im Zweiten Weltkrieg zerstört. Als Beispiele für weltanschaulich ausgerichtete Gebrauchsarchitektur 

jener Jahre nennt Borrmann das nach dem Zweiten Weltkrieg äußerlich verstümmelte nordische „Haus Atlantis“ in Bremen von 1931 und die Karl-Marx- oder Karl-Seitz-Höfe in Wien. Die von Sozialdemokraten initiierten Siedlungen sollten bewußt eine „Rote Festung“ der Arbeiterklasse darstellen. Doch das linke Projekt ist längst durch den demographischen Wandel überholt. „Wo früher eine Bibliothek war, ist heute ein Seniorentreff“, schreibt Borrmann. „Aber selbst die Zeit kleinbürgerlicher Beschaulichkeit neigt sich dem Ende zu. (…) Dafür steigen Gewalt und Verwahrlosung. Die große Solidarität weicht der Hackordnung eines neu entstehenden ‘Vielvölkerstaates’.“ 

„Identität & Gedächtnis“ ist primär ein flüssig geschriebenes Buch für an Kunstgeschichte und Architektur interessierte Leser. Brisanz erhält es aber, wenn sich Borrmann der jüngeren deutschen Geschichte nähert. Kurz und prägnant geht der Autor auf die umfangreichen städtebaulichen Planungen und die Sakralarchitektur der NS-Zeit ein: „Die säkularisierte Religion des Nationalsozialismus ist gekennzeichnet von einem ‘Hunger nach Mythos’ und dem Bemühen, der Architektur einen sakralen und weihevollen Ausdruck zu verleihen.“ 

In der Bundesrepublik nach 1945 wurde dieser Kult um Tod und Lebenskraft ins Gegenteil verkehrt: „Die eigenen Toten sind heute nur dann noch von Wert, wenn sie Opfer des Nationalsozialismus waren – sonst nicht. Das gilt nicht nur für die Soldaten, sondern auch für die Vertriebenen und Bombenopfer.“ Das Totengedenken der NS-Zeit wurde somit nach 1945 nur als „Lust zur effektvollen Selbstvernichtung“ interpretiert, doch der liberalkapitalistische Westen mit seiner Verdrängung des Todes müsse im Ernstfall erst noch seinen Selbsterhaltungstrieb unter Beweis stellen. 

„Vergangenheitsbewältigung“ wurde auf baulicher Ebene nach 1945 durch die Entsorgung oder Dekonstruktion von baulichen NS-Hinterlassenschaften versucht. Als bundesdeutsche Staatsbaukunst bemühte man hingegen eine „demokratische Architektur“, die sich in bewußter Verneinung klassisch-antiker Machtzeichen präsentierte. Man orientierte sich an der globalistischen Bauhaus-Moderne, meinte, daß Asymmetrie, Flachdach und die ganze Fassade einnehmende Glasflächen die angebliche „Transparenz“ und „Offenheit“ der Entscheidungsprozesse in der parlamentarischen Demokratie am besten symbolisieren könnten. 

Am Ende seines Buches gibt Borrmann doch noch ein Lichtzeichen. Er wagt einen Blick auf die agile Rekonstruktionsbewegung, durch die unter anderem das Berliner Stadtschloß und die Dresdner Frauenkirche wiederauferstanden sind. In dieser Bewegung sieht der Kunsthistoriker den Versuch der „Rückgewinnung verlorener Identität“.

Norbert Borrmann: Identität & Gedächtnis. Denkmäler und politische Architektur von 1800 bis zur Gegenwart. Ares-Verlag, Graz 2016, gebunden, 216 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro