© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

Keine Alternative zum globalen Marktmodell
Wirtschaftsbuch: Der Brite Paul Mason kommt bei seinen Analysen des postkapitalistischen Stadiums über die Rezepte des traditionellen Sozialismus nicht hinaus
Felix Dirsch

Seitdem der Kapitalismus in sein globales Stadium eingetreten ist, verstummt die Fundamentalkritik mangels Alternativen. Selbst die Finanzkrise von 2007/08 dürfte daran nur wenig ändern. Dennoch melden sich einige Gegner umfassender Deregulierung engagiert zu Wort, so der Pariser Gelehrte und Präsidentenberater Thomas Piketty (JF 3/15). Zahlreiche historische wie gegenwärtige Statistiken dienen ihm dazu, die Ungerechtigkeiten der derzeitigen Vermögensakkumulation zu unterstreichen.

Einen anderen Weg der Untersuchung des verhaßten Modells wählt der linke Journalist und Ex-Trotzkist Paul Mason. In einer Tour d’Horizon zeigt er, wie der Kapitalismus sich im Laufe der letzten 150 Jahre entwickelte und inwiefern sich seine Varianten im digitalen Zeitalter von den klassischen der industriellen Epoche unterscheiden. Ausführlich kommen die zahlreichen Kritiker zu Wort, vornehmlich Karl Marx und seine Rezipienten, aber auch der Managementdenker Peter Drucker, der die postkapitalistische Gesellschaft schon vorhersagte, als die Netzwerkgesellschaft noch in Ferne war. Für die kommunistischen Opponenten bestand kein Zweifel, daß die Überwindung dieser Wirtschaftsform zwingend ist – nicht zuletzt aufgrund ihrer inhärenten Widersprüche.

Gegen die „neoliberale Privatisierungsmaschine“

Doch der Totgesagte lebte länger als ihm prophezeit wurde. Durch Reformen konnte der Zusammenbruch immer wieder verhindert werden. Findige Profiteure erfanden im Zusammenspiel mit wohlgesonnenen politischen Eliten bereits im späten 19. Jahrhundert den Sozialstaat, der im darauffolgenden Zentennium weiter ausgebaut wurde. 

Methodisch argumentiert Mason vor dem Hintergrund der Arbeiten des russischen Theoretikers Nikolai Kondratjew. Dieser betrachtete wirtschaftliche Zyklen, die jeweils ungefähr fünfzig Jahre andauerten. Dem neuen Paradigma der Dampfmaschine und der Kanalbauten folgte etwa Mitte des 19. Jahrhunderts der Zyklus von Eisenbahnen, Telegrafie und Ozeandampfern, der nach rund fünf Jahrzehnten (Anfang des 20. Jahrhunderts) durch Schwerindustrie, Telefon und Elektrotechnik abgelöst wurde. Ab etwa 1950 wird der Alltag in Euro­pa durch Transistoren, Massengüter, Fertigungsautomation und Atomkraft revolutioniert. Information wird immer mehr zum wichtigsten Stoff überhaupt. Seit den 1990er Jahren zeigt sich ein enormer Schub an globaler Vernetzungstechnologie und mobiler Kommunikation.

Ist manche wirtschaftliche Analyse durchaus zustimmungsfähig, offenbart der Verfasser besonders in einigen Exkursen sein Halbwissen. So erörtert er den Klimawandel unter dem Gesichtspunkt der „rationalen Panik“ und postuliert – ohne jedwede Begründung – die für ihn zwingende Korrelation von „Nicht-Marktwirtschaft“ und einer Verringerung des Kohlendioxid-Ausstoßes.

Ein umfangreicheres Kapitel nimmt Stellung zu den Prinzipien der Selbsttransformation des Gegenwartskapitalismus. Einiges darin ist diskutabel. Der Preis eines Gutes war stets ein Knappheitsindikator. Das gilt freilich bei der wichtigsten Ressource der Wissensgesellschaft, der Information, nur eingeschränkt, da diese grundsätzlich im Überfluß vorhanden ist. Die „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ (Jeremy Rifkin), so wird öfters geschlußfolgert, versetze dem Kapitalismus verspätet doch den Todesstoß. Open-Source-Projekte wie Wikipedia revolutionieren den Markt, da sie primär nicht profitorientiert und allgemein zugänglich sind.

Die alte Allmende-Produktion mutet auferstanden an. Unser Dasein wird zukünftig mehr und mehr gesteuert sein. Intelligentere Steuerungssysteme werden die Ressourcennutzung in verschiedenen Bereichen in hohem Maße optimieren. Auch Arbeit dürfte sich deutlich verbilligen, da sie immer mehr statt durch Menschen mittels kluger Maschinen verrichtet werden kann. Das vieldiskutierte „Internet der Dinge“ wirkt, so ist anzunehmen, in eine ähnliche Richtung.

Angesichts dieser abzusehenden Möglichkeiten lacht das Herz eines Verfechters des postkapitalistischen Projekts. Ist es nicht wahrscheinlich, daß aufgrund dieser Informationsverarbeitungskapazitäten eine perfekte Planung am Horizont als realisierbar erscheint, die es zuläßt, die „neoliberale Privatisierungsmaschine“ abzuschalten? Komplexe Erkenntnisse, die nach Meinung klassischer Liberaler wie Friedrich von Hayek nur der Markt generieren könne, seien nunmehr, Mason zufolge, anderweitig zu gewinnen, im Zweifel durch Big Data.

Solche Mär ist denkbar unterkomplex. Am Ende ist es für Mason eine adäquate Lösung, den Finanzsektor zu verstaatlichen und die Marktkräfte zu eleminieren. Das geplante Grundeinkommen wird es schon richten; und eine weitere frohe Botschaft beschließt die Erzählung: „Der Postkapitalismus wird euch befreien“. Damit verkündet er das Evangelium, auf das alle gewartet haben.

Paul Mason: Postkapitalismus – Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016, 429 Seiten, gebunden, 26,95 Euro