© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

Gleichung mit vielen Unbekannten
Bilanz: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Asylzahlen für das vergangene Jahr vorgestellt / Krise ist noch nicht überwunden
Peter Möller

Es ist alles eine Frage der Perspektive. Nimmt man die Rekordzahlen von 2015 zum Maßstab, als mit der großen Flüchtlingswelle nach offizieller Zählung 890.000 Menschen nach Deutschland kamen (inklusive aller nicht registrierten Einwanderer dürften es mehr als eine Million gewesen sein), dann hat sich die Situation im abgelaufenen Jahr merklich entspannt. Denn nach vorläufiger Berechnung der Behörden kamen  2016 „nur“ rund 280.000 Personen, wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in der vergangenen Woche in Berlin verkündete. 

Doch ein Blick auf die Vergleichszahlen von 2014, damals wurden 202.834 Asylbewerber registriert, zeigt, daß von einer tatsächlichen Entspannung nicht die Rede sein kann. Denn Anfang 2015 hatte de Maizière bereits mit Blick auf die aus heutiger Sicht vergleichsweise geringen Werte von 2014 Alarm geschlagen: „Die stetig steigenden Asylzahlen stellen uns vor enorme Herausforderungen, die nur durch ein gesamtgesellschaftliches Zusammenwirken zu bewältigen sind“, sagte der Innenminister damals. 

Beim zweiten Blick auf die aktuelle Asylstatistik zeigt sich daher, daß der Einwanderungsdruck weiter sehr hoch ist. Das belegen auch alle anderen Daten, die de Maizière gemeinsam mit dem in der vergangenen Woche aus dem Amt geschiedenen Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf),  Frank-Jürgen Weise, präsentierte. Demnach wurden beim Bamf 2016 rund 745.500 Asylanträge gestellt. Etwa 36 Prozent der Antragsteller 2016 waren Syrer, 17 Prozent kamen aus Afghanistan und 13 Prozent aus dem Irak. Das sind insgesamt fast 269.000 mehr Anträge als im Vorjahr. Die weiterhin hohe Zahl gehe darauf zurück, daß viele schon 2015 auf dem Höhepunkt der Asylkrise eingereiste Einwanderer erst im vergangenen Jahr ihren Antrag stellen konnten, sagte Weise. Insgesamt wurden 2016 vom Bamf fast 696.000 Entscheidungen getroffen, fast zweieinhalbmal so viele wie im Jahr davor. Insgesamt 256.136 Personen erhielten 2016 die Rechtsstellung eines Flüchtlings nach der Genfer Konvention, 153.700 Personen wurde subsidiärer Schutz gewährt und 24.084 Personen Abschiebungsschutz nach dem Aufenthaltsgesetz (siehe Grafik).

Trotz aller Fortschritte sitzt das Bundesamt immer noch auf einem gewaltigen Berg von unbearbeiteten Anträgen. Anfang 2016 hatte Weise angekündigt, durch die massive personelle Aufstockung seiner Behörde bis Ende des Jahres den Überhang abbauen zu können. Doch davon kann keine Rede sein. Ende 2016 betrug der Rückstau an Anträgen immer noch 434.000 Fälle.

Immerhin wurde nach Auskunft von Weise die Dauer der Asylverfahren bereits deutlich verkürzt. Auf dem Höhepunkt der Asylkrise dauerte es Monate, bis Asylbewerber überhaupt einen entsprechenden Antrag stellen konnten. Die Bearbeitung des Asylantrages erforderte dann nochmal mehrere Monate. Laut Weise können als Flüchtlinge eingereiste Ausländer mittlerweile bereits in der Regel nach zwei Wochen in Deutschland den Antrag stellen. Die Bearbeitungsdauer betrage nun im Schnitt zwei Monate. Die Hälfte der Fälle sei sogar schon in ein bis zwei Wochen entschieden, berichtete Weise.

Kritik an der Asylstatistik kam unterdessen von AfD-Vize Alexander Gauland. Er verwies darauf, daß noch immer nicht alle  Asylbewerber erfaßt worden seien. „Man kann daher mit Fug und Recht von einer extrem hohen Dunkelziffer sprechen, die, wenn aufgeklärt, die Zahl der Asylsuchenden in 2016 noch einmal deutlich erhöhen wird“, sagte Gauland. Es sei vor dem Hintergrund unseriös und unehrlich, irgendeine Zahl zu veröffentlichen, ohne zumindest auf die noch unbekannten Faktoren hinzuweisen.





Fragen zu Integrationskursen

Das im August vergangenen Jahres in Kraft getretene Integrationsgesetz sieht einen hundert Unterrichtseinheiten umfassenden Orientierungskurs vor, in dem den Einwanderern Kenntnisse von Rechtsordnung, Kultur und Geschichte vermittelt werden sollen. Ein vollständiger Lehrplan dafür soll demnächst veröffentlicht werden. Zum vorläufigen Curriculum hatten die Grünen im Bundestag eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Die Fraktion hakte unter anderem nach, warum beim Thema „interreligiöser Dialog“ Inhalte wie „Kopftuch-Debatte“ oder „Kruzifix-Urteil“ fehlten. Antwort: Man habe bewußt auf konkrete Beispiel verzichtet, „um den Kursträgern und Lehrkräften mehr inhaltlichen Spielraum zu ermöglichen“. Noch bezeichnender ist die Begründung für das Fehlen der Begriffe „Zwangsheirat“ oder „Ehrenmord“: Unter den Fachleuten habe Einigkeit geherrscht, „auf unterstellende Formulierungen zu verzichten und die Behandlung von weit ins Persönliche und häufig sogar mit Traumata verbundenen Themen nicht verbindlich in das Curriculum aufzunehmen“.