© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/17 / 13. Januar 2017

Der Flaneur
Mahlzeit im Rinnstein
Bente Holling

Schon mehrfach habe ich auf meinem täglichen Weg den Kopf darüber geschüttelt, daß die Leute an dieser Bushaltestelle offenbar zu blöd sind, ihren Abfall in den Mülleimer zu werfen und nicht daneben. Immer liegt der Müll verstreut unter dem am Haltestellenschild befestigten Abfallbehälter. Doch es sind gar nicht die Wartenden: Zwei riesige Rabenkrähen hocken auf dem Dach des Bushäuschens. Ihre Augen funkeln schwarz, auf den glänzenden Schnäbeln tragen sie die typischen Federbärtchen.

Der Kollege hat einen Strohhalm geangelt und stochert damit im Inhalt der Mülltonne herum.

Eine hüpft auf den Papierkorb, die andere flattert zu Boden. Die erste beginnt, kopfüber mit dem Schnabel durch die Einwurföffnung zu tasten, zupft heraus, was sie erreichen kann und wirft es hinunter. Der andere Vogel beginnt, die Beute zu untersuchen und wendet die Funde interessiert hin und her.

Der Kollege oben hat einen Plastikstrohhalm geangelt und stochert damit im Inhalt der Mülltonne herum. Mit dem Werkzeug wühlt er Papier und Pappe aus dem Eimer. Das andere schwarze Huckebein hat etwas auf der Fahrbahn entdeckt, das aussieht wie eine leere Imbißtüte. Er wartet routiniert auf dem Bordstein, bis die rote Ampel die Autoschlange anhält. Dann schreitet er geschickt zwischen den Reifen hindurch und klaubt seinen Fang auf. Er scheint genau zu wissen, wieviel Zeit ihm dafür bleibt. In der Ecke der Verpackung sind noch ein paar kalte Pommes frites. Nummer eins hat alles beobachtet, läßt seinen Strohhalm fallen und hüpft eilig herbei. Mahlzeit im Rinnstein.

Doch plötzlich flattern die beiden erschreckt hoch – der Bus kommt und hält hart an der Bordsteinschwelle. Die Beute liegt unter dem Rad. Die Krähen sitzen auf dem Dach des Wartehäuschens und beschimpfen lautstark und wütend den großen Rivalen.