© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/17 / 13. Januar 2017

„Tatsächlich war es Poincarés Krieg“
„Revanche pour Sedan“: Der Würzburger Historiker Rainer F. Schmidt über Frankreichs großen Anteil an der Entfesselung des Ersten Weltkriegs
Oliver Busch

Wie das Bürgertum der Weimarer Republik die Welt wahrnahm, darüber erteilt „Der Große Brockhaus“ in den zwanzig Bänden seiner fünfzehnten, von 1928 bis 1935 erschienenen Auflage in schier unerschöpflicher Fülle Auskunft. Im 14. Band, OSU – POR, Leipzig 1933, trotz des Erscheinungsdatums ohne spürbaren NS-Einfluß, findet sich ein ausführlicher Artikel über den französischen Advokaten und Politiker Raymond Poincaré (1860–1934). 

Als geborener Lothringer, wie mit Sinn für wichtige Details notiert wird, habe dieser schon zu Beginn seiner politischen Karriere „den Gedanken der Revanche gegen das Deutsche Reich“ verfochten. „Zielbewußt“ festigte er daher, 1912 Ministerpräsident und Außenminister, Frankreichs Bündnisbeziehungen zu Rußland und England. Als er 1913 ins Amt des Staatspräsidenten aufrückte, kommentierte die Öffentlichkeit dies mit dem Schlagwort „Poincaré-la-guerre“. Noch während der Julikrise 1914 trieb er mit seinem Staatsbesuch in St. Petersburg seine „deutschfeindliche Außenpolitik“ voran. „Unbestreitbar“ sei er darum „einer der Hauptschuldigen“ am Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen.

Bildungsbürgerliches Allgemeinwissen bis 1970

Was der Artikel in lexikalischer Kürze resümiert, ist das Resultat eines zeithistorischen Großunternehmens, der Weimarer Exzellenzforschung zur „Kriegsschuldfrage“, die nach der Auswertung aller verfügbaren archivalischen Quellen und Dokumente Frankreich und Rußland mit der Verantwortlichkeit für die 1914 ausgelöste „Urkatastrophe“ belastete. Was somit via Brockhaus ins bildungsbürgerliche Allgemeinwissen einging, zählte noch im westdeutschen Geschichtsunterricht der frühen siebziger Jahre zu den über den Ersten Weltkrieg vermittelten Binsenweisheiten. 

Einen radikalen Bewußtseinswandel bewirkte dann erst der sagenhafte Rezeptionserfolg der Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer, eines ehemaligen völkischen Aktivisten und Nationalsozialisten, dem offenkundig therapeutische Bedürfnisse nach „Bewältigung“ von „Schuld“ seine revisionistische Feder geführt hatten. Fischer lieferte mit dem Konstrukt eines kriegsentfesselnden deutschen „Griffs nach der Weltmacht“ zwar nur eine verblüffend monokausale Deutung der hochkomplexen internationalen Lage bis 1914, klopfte damit aber, neben der sakrosankten Alleinverantwortung für den Kriegsausbruch 1939, die zweite deutsche „Alleinschuld“ an einem Weltkrieg fest, die seit nunmehr vierzig Jahren zur dogmatischen Grundausstattung bundesrepublikanischer Geschichtspolitik gehört.

Als, hierzulande eher unbeachtet, Sean McMeekin („The Russian Origins of the First World War“, Cambridge 2013, JF 19/14), und, mit gewaltiger Resonanz, Christopher Clark („Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“, deutsche Ausgabe 2013, JF 42/13) in Anlehnung an die Forschungen der Zwischenkriegszeit die entschlossensten Kriegstreiber wieder in Petersburg und Paris am Werk sahen, verhielt sich das Gros ihrer schuldstolzen deutschen Kollegen ignorant oder witterte gar „Apologetik“, während die politischen Verwalter des kollektiven Gedächtnisses, wie Einlassungen von Bundespräsident und Bundeskanzlerin im Erinnerungsjahr 2014 belegen, ohnehin keinen Anlaß sahen und sehen, ein düsteres Geschichtsbild zu überprüfen, das ihre tief verwurzelten Aversionen gegen alles Deutsche bestens illustriert.

In solchen Kontexten, in denen Geschichte als Element nationaler Identitätsbildung inzwischen unerwünscht ist, dürfte auch die Sprengkraft der an prominenter Stelle, in der ehrwürdigen Historischen Zeitschrift (Band 303/2016), veröffentlichen Studie Rainer F. Schmidts einfach verpuffen. Unter dem Titel „‚Revanche pour Sedan – Frankreich und der Schlieffenplan“ behandelt der Würzburger Historiker die „militärische und bündnispolitische Vorbereitung des Ersten Weltkriegs“. Wie bei Clark und McMeekin, die allerdings die Gewichte mehr in Richtung Rußland verschieben, kommen auch bei Schmidt die im Schatten von Versailles erarbeiteten Erkenntnisse der deutschen Kriegsursachenforschung vor 1933 zu neuen Ehren. Entsprechend rückt der dank Fritz Fischer gänzlich in Vergessenheit geratene, damals als „einer der Hauptschuldigen“ (Brockhaus) identifizierte Raymond Poincaré bei Schmidt wieder ins Zentrum der Analyse. 

„Tatbestand einer indirekten Kriegsentfesselung“

Bezeichnenderweise kann sich Schmidt Archivfron ersparen. Weil die meisten diplomatischen und militärpolitisch relevanten Dokumente seit neunzig Jahren gedruckt vorliegen. Weil, jenseits der von Fischers Thesen dominierten BRD-Historiographie, an angelsächsischen und französischen Untersuchungen zum Thema kein Mangel ist. Das alles mußte nur ohne volkspädagogische Scheuklappen neu gelesen und gewertet werden. Und schon kann Schmidt noch härter als Clark formulieren, wenn er als Fazit seiner neuerlichen Autopsie unumwunden von Poincarés „Kriegsvorbereitungs- und Erpressungspolitik gegenüber Berlin“ spricht und kühl konstatiert: Poincarés Kalkül in der „Julikrise 1914“ erfülle „den Tatbestand einer indirekten Kriegsentfesselung“.

Urmotiv der auf einen Krieg mit dem Deutschen Reich zusteuernden, stets latent aggressiven französischen Außenpolitik war die Revanche für die Niederlage von 1870/71 und die Wiedergewinnung der damals abgetretenen Provinzen Elsaß und Lothringen. Aus eigener Kraft konnte Frankreich dieses Ziel nicht erreichen. Im zaristischen Rußland, das ebenfalls seinen weltpolitischen Status quo verändern und Richtung Balkan und Bosporus expandieren wollte, fand die Advokatenrepublik daher den idealen Bündnispartner.

Nach erheblichen Friktionen, denen die fragile Partnerschaft seit 1893 ausgesetzt war, leitete Poincaré jedoch 1912, noch als Ministerpräsident, die Wende ein, indem er den Russen zusicherte, deren Balkaninteressen bedingungslos zu unterstützten. Poincaré habe damit die eher defensive Interpretation des Bündnisfalles aufgegeben und im „Krisenkatalysator Balkanraum“ einen, wie Clark es ausdrückte, „geopolitischen Zündmechanismus“ installiert. 

Um die russischen Erfolgsaussichten zu steigern, galt es, die militärische Infrastruktur des Zarenreiches zu optimieren. Deswegen flossen seit 1912 die bis dahin höchsten Darlehen der Finanzgeschichte, 2,5 Milliarden Francs, in die Petersburger Staatskasse. Mit diesem Geld wurde das strategische Eisenbahnnetz in Westrußland, dem heutigen östlichen Polen und Weißrußland, so rasch ausgebaut, daß sich die russische Mobilmachungsfrist bis 1914 von vier auf zwei Wochen verkürzte. Überdies erreichten die Franzosen eine Drehung der Aufmarschrichtung der russischen Dampfwalze, fort von Österreich-Ungarn, hin zu Ost- und Westpreußen. 

In Paris verfügte man seit April 1914 über eine Kopie des deutschen „Schlieffenplans“, der für den Kriegsfall mit einem schnellen Sieg im Westen kalkulierte, während Rußland wegen seiner langsamen Mobilmachung noch keine Gefahr darstellte. So wollte der deutsche Generalstab einen Zweifrontenkrieg verhindern: zuerst Frankreich niederschlagen, dann die geballte Heeresmacht nach Osten werfen und Rußlands Armeen ausschalten. 

Mit der von Frankreich inspirierten und finanzierten Verkürzung dieser Mobilmachungsfrist, so Schmidt, seien die Prämissen des Schlieffenplans jedoch zunehmend obsolet geworden. „Der Einkreisungsring begann sich zu schließen“, zumal man in Berlin im Sommer 1914 wußte, daß England und Rußland über eine Marinekonvention verhandelten. Das Reich war über kurz oder lang gezwungen, den „echten Zweifrontenkrieg“ zu führen, wie ihn sich Paris wünschte.

„Angestachelt durch Paris“, ergriff Petersburg nach dem Attentat von Sarajevo darum sofort die Initiative, „eine Politik hart am Rande des großen Krieges“ zu treiben und einen Waffengang zu riskieren. Aus Poincarés Sicht ergab sich lediglich noch das Problem, Berlin und Wien mit dem Odium der Aggressoren zu versehen, um England auf die Seite der eigentlichen Angreifer zu ziehen. Dies gelang am Ende des „Eskalationsrhythmus“ mit der russischen Generalmobilmachung vom 31. Juli 1914, nachdem Poincaré acht Tage zuvor in Sankt Petersburg dem Zaren persönlich das Versprechen „unbedingter Bündnissolidarität und militärischer Unterstützung“ gegeben hatte. 

Die Generalmobilmachung als letzter Schritt, auf den die Deutschen nur mit der Kriegserklärung antworten konnten, habe Poincaré, der seit Sarajevo den „Countdown zum Krieg in Gang setzte“, mithin „geradezu provoziert“. 

Obwohl Schmidt unterstreicht, in diesem „hochkomplizierten Aktions-Reaktionsschema“ verbiete es sich, à la Fischer den Blick monoperspektivisch auf einen Akteur zu lenken, lasse sich die tragende Rolle, die Frankreichs Staatspräsident in diesem Drama spielte, nicht verkleinern: „Tatsächlich war es Poincarés Krieg, der sich seit 1912 für den großen ‘showdown’ gewappnet und alle Vorkehrungen hierfür getroffen hatte.“