© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/17 / 06. Januar 2017

Ein sanftes Ungetüm erhebt sein globales Haupt
Der Anthropologe und Erfolgsautor David Graeber erklärt die ehernen Gesetze bürokratischer Regelwerke
Felix Dirsch

David Graeber ist als einer der führenden Vordenker des gegenwärtigen Anarchismus wie als einer der Väter der Occupy-Bewegung bekannt geworden. Er veröffentlichte den internationalen Bestseller „Schulden. Die ersten fünftausend Jahre“. Nun publizierte er eine neue Studie, die auch in ihrer deutschen Übersetzung auf breites Interesse stößt.

Sein neues Thema ist für viele Menschen durchaus existentiell, wenngleich es seit den frühen siebziger Jahren nicht mehr so intensiv wie zuvor debattiert wird: die Bürokratie. Daß deutsche Gelehrte mit klassischen Traktaten über dieses schwer greifbare Phänomen berühmt geworden sind, kann kaum überraschen, hatte die Bürokratie doch hierzulande stets einen besseren Ruf als anderswo. Nicht von ungefähr lobten so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Mark Twain und Lenin die Leistungskraft der deutschen Post in hohen Tönen, deren Zuverlässigkeit (neben der Eisenbahn) etatistische Tugendhaftigkeit par excellence verkörperte. 

Gewisse Faszination für die Wirkung der Bürokratie

Kein Geringerer als Max Weber erklärte die Verwaltung zur Inkarnation des rational-legalen Typus der Legitimität moderner Staatlichkeit. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg setzte der französische Philosoph Michel Foucault diese Denkrichtung in gewisser Weise fort, indem er Webers vielbeachtete Metapher vom „stählernen Gehäuse der Hörigkeit“ anhand verschiedener Institutionen wie dem Krankenhaus, der psychiatrischen Anstalt oder dem Gefängnis analysierte und damit die pauschale Annahme einer umfassenden Freiheitsgeschichte in der Moderne zu widerlegen intendierte.

Doch das Unbehagen an den Wucherungen der Bürokratie beschlich nicht nur Weber, der als Widerlager zu dieser meist anonymen Herrschaftsvariante die persönlich-charismatische präferierte. Ebenso blickt ein Libertärer wie Graeber genau hin, wenn es um das Pro und Contra amtlicher Regelwerke geht. Eine gewisse Faszination kann er für deren Wirkung nicht verhehlen: Sie stehen für Effizienz, Gerechtigkeit und Transparenz. Daran ändert das Faktum nichts, daß praktische Notwendigkeiten, etwa das Ausfüllen von Formularen, gemeinhin nerven. 

Der gelernte Anthropologe, der Ergebnisse seines Fachgebietes gelegentlich in seine Erörterungen einbezieht, ist sensibel genug, um das Gewaltpotential herauszuarbeiten, das sich in Akten der Verwaltung mitunter zeigt, oft mehr unsichtbar als sichtbar. Zu den Stärken der Untersuchung zählt die ausführliche Begründung der leicht zu belegenden Tatsache, daß gerade Länder mit marktwirtschaftlicher Dominanz eine üppige Bürokratie hervorbringen, obwohl deren Einfluß den Vorstellungen von Deregulierung diametral widerstreitet. 

Ein freier Markt impliziert mannigfache Voraussetzungen, die ohne amtliche Rahmenbedingungen nicht zu garantieren sind. Weiter legt Graeber die Schnittstelle einer zeitgemäßen Kritik der Bürokratie frei, die finanzialistische, gewalttheoretische, technologische Aspekte sowie die Verschmelzung von Privatheit und Öffentlichkeit umfaßt. 

Ob man der reißerischen These des Verfassers folgt, der Pakt von Bürokratie und Kapitalismus stoße die Welt in den Abgrund, soll dahingestellt bleiben. Die Schwächen der Veröffentlichung liegen ebenfalls auf der Hand: Der rote Faden ist gelegentlich nicht zu erkennen. Langatmige Exkurse, etwa über die philosophischen Wurzeln der Rationalität bei Pythagoras, sind redundant. Das zum Schluß angehängte Kapitel über Christopher Nolans Batman-Trilogie gerät zum  Anti-Occupy-Stück und dient dem Bedürfnis des Autors, etwas über das Supermänner-Genre wie über Comicgeschichten zu vermitteln, als daß es viel zum Verständnis der grundsätzlichen Überlegungen beitragen könnte. Wichtig ist jedoch, daß ein weltweit beachteter Autor die grundsätzliche Frage nach der Akzeptanz der Bürokratie im informationstechnischen Zeitalter neu stellt.

David Graeber: Bürokratie – Die Utopie der Regeln. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2016, gebunden, 329 Seiten, 22,95 Euro