© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/17 / 06. Januar 2017

Todeshieb durch die Seevölker
Neue Forschungen über den spätbronzezeitlichen Zivilisationskollaps bei den mediterranen Hochkulturen
Wolfgang Kaufmann

Manche Jahre stehen für geschichtliche Zäsuren besonderen Ausmaßes: 1492, 1648, 1917, 1945 oder 1989. Diese Jahreszahlen sind im kollektiven Bewußtsein allgemein präsent. Hingegen können viele Menschen nichts mehr mit „476 n. Chr.“ anfangen. Dabei schlug damals die Todesstunde des weströmischen Reiches, womit der Übergang von der Antike zum Mittelalter eingeläutet wurde. Und vom Epochenjahr 1177 v. Chr. haben gar noch weniger Leute gehört. 

Trotzdem passierte zum selbigen Zeitpunkt – während der Herrschaft des ägyptischen Pharaos Ramses III. – etwas, was ebenso fatale wie nachhaltige Wirkung entfalten sollte: die schon einmal 1207 v. Chr. als Aggressoren in Erscheinung getretenen „Seevölker“ fielen erneut ins Nildelta ein, nachdem sie zuvor bereits verschiedene andere Regionen des östlichen Mittelmeerraumes und Vorderasiens heimgesucht hatten. Denn Ramses konnte die Invasoren zwar mit knapper Not niederringen und vernichten, erzielte aber letztlich doch nur einen Pyrrhussieg. 

Einerseits blieb das Neue Reich nämlich hernach dauerhaft geschwächt, andererseits kam es in fast allen umliegenden Regionen zum weitgehenden Zusammenbruch der hochentwickelten spätbronzezeitlichen Zivilisation. Ausdruck dessen war der Zerfall der Reiche der Hethiter, Mykener, Kanaaniter und Zyprer sowie die Zerstörung prosperierender Groß- und Handelsstädte wie Ugarit, Lachisch, Aschdod, Megiddo (das biblische Armageddon), Babylon, Hattuscha, Pylos und Mykene. Hierfür zeichneten zwar nicht in jedem Falle die „Seevölker“ verantwortlich, die übrigens oft auch den Landweg über Anatolien benutzten, jedoch sorgte ihr Auftreten für einen Dominoeffekt mit fatalen Folgen.

Woher die fremden Eindringlinge kamen, ist bis heute umstritten. Auf jeden Fall aber waren „ihre Herzen (…) zuversichtlich und voller Vertrauen“, wie eine Inschrift im Totentempel von Ramses III. in Medinet Habu verrät. Und sie agierten extrem gewalttätig: Zeitgenössischen Berichten zufolge zerstörten sie blindwütig alle überrannten Ansiedlungen und massakrierten deren Bewohner. Der Grund hierfür lag wohl in kulturellem Neid, denn die „Seevölker“, welche in der Forschung mittlerweile oft als „Flüchtlinge“ auf der Suche nach Wohlstand und Sicherheit hingestellt werden, glänzten zu keinem Zeitpunkt durch irgendwelche schöpferischen Leistungen oder Gewerbefleiß – wo sie auftraten, lag das Land bald darauf heruntergewirtschaftet am Boden.

Verletzliche Kulturen durch Abhängigkeit vom Zinn 

Daß die Invasoren derartige Erfolge gegen etablierte Großmächte erzielen konnten, resultierte allerdings nicht nur aus ihrer offenbar immens großen Zahl und dem ungeheuren Selbstbewußtsein, sondern auch aus der Störanfälligkeit des politisch-ökonomischen Systems rund um die Ägäis und im anatolisch-vorderasiatischen Raum. Beispielsweise benötigten alle Reiche dort importiertes Zinn aus Badachschan im heutigen Afghanistan – ohne den in der Ferne geförderten Rohstoff konnte keine waffenfähige Bronze hergestellt werden. Daher kam dem Zinn damals die gleiche strategische Bedeutung zu wie heute dem Rohöl. Aber der Transport zu Lande und zu Wasser über enorme Distanzen erforderte eben sichere Handelswege. Doch gerade die wurden durch das Vordringen der „Seevölker“ unterbrochen.

Und auch sonst bestanden vielerlei Abhängigkeiten und Vernetzungen, die sich unter anderem in ersten internationalen Abkommen äußerten. Deshalb kann man durchaus von einer Frühform der Globalisierung sprechen, die der Region ab dem 15. Jahrhundert v. Chr. zunächst Wachstum und Wohlstand bescherte. 

Zugleich förderte das Prosperieren aber die wachsende Zentralisierung sämtlicher Reiche, was diese zwar stark erscheinen ließ, aber am Ende genauso verletzlich machte wie die Abhängigkeit vom Zinn. Unter solchen Umständen genügte nämlich schon das Versagen kleinerer Systembestandteile aufgrund innerer oder äußerer Einflüsse, um einen kompletten Systemzusammenbruch zu bewirken – analog dem, was bei „Blackouts“ in Stromnetzen passiert.

Das heißt, der „Seevölkersturm“ traf auf eine kulturell und wirtschaftlich hochstehende sowie auch sehr komplexe Zivilisation, welche in saturierter Selbstgefälligkeit verharrte und sich ausgesprochen sicher wähnte, weil niemand begriff oder wahrhaben wollte, wie fragil die Basis des Ganzen war.

Nach dem Kollaps des Staatensystems der späten Bronzezeit im östlichen Mittelmeer und den angrenzenden Regionen begannen dann die „dunklen Jahrhunderte“, welche freilich genausowenig finster daherkamen wie das frühe Mittelalter, das die Antike ablöste. Immerhin brachte diese Epoche Errungenschaften von der Art der Alphabetschrift und der Demokratie hervor. Zudem trat nun Eisen, das im Gegensatz zum Zinn und auch dem Kupfer fast überall vorkam, an die Stelle von Bronze. Damit brauchte es keine zentralstaatliche Planwirtschaft mehr, um die Beschaffung von Rohstoffen über große Entfernungen zu organisieren. Vielmehr genügten kleinräumige, unbürokratisch operierende Wirtschaftseinheiten, welche den fortwährenden Turbulenzen während der Periode des langsamen Wiederaufschwungs sehr viel besser standhielten.

Lehren aus dem Kollaps nach 1177 v. Chr. auch heute

Aber auch wenn sich die vorderasiatisch-mediterrane Zivilisation letztlich wieder von ihrem Zusammenbruch im 12. Jahrhundert erholte, sollten Lehren aus dem „Seevölkersturm“ gezogen werden, damit die damaligen Ereignisse nicht in anderer, modernerer Form wiederkehren. So müßte heute hinterfragt werden, wie weit die Globalisierung und internationale Vernetzung eigentlich noch getrieben werden sollen. 

Das gleiche gilt für den immer stärkeren Drang nach Zentralisierung, für den insbesondere die Europäische Union steht. Darüber hinaus ist es höchste Zeit, die Abhängigkeit von Rohstoffen wie Öl, die aus entfernten und unsicheren Regionen stammen, wenigstens zu vermindern. Und natürlich braucht es auch deutlich mehr Wachsamkeit angesichts des unkontrollierten Zustroms von Fremden, welche sich als Flüchtlinge ausgeben, aber im Grunde oft nur auf die Zerstörung oder Verdrängung der vorgefundenen Kulturen in den Gastgeberstaaten aus sind. Sonst steht Europa bald das erste traumatische Epochenjahr des dritten Jahrtausends bevor.