© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/17 / 06. Januar 2017

Die Entstofflichung der Wirklichkeit
Das postfaktische Zeitalter
Jost Bauch

Die Wirklichkeit war für den Menschen schon immer ein Ärgernis. Sie bedrängte ihn und schränkte seinen Wirkungskreis ein. Der Philosoph Hans Blumenberg sprach vom „Absolutismus der Wirklichkeit“ – eine „archaische Fremdheit der Welt“, auf die der Mensch nur mit Kränkung seiner verletzten Eitelkeit reagieren konnte, weil er der Spielball von undurchschauten Mächten war. Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht somit in der Kränkung ein pathologisches Ereignis, vielleicht die modernere Version der Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies.

Jedenfalls hat der Mensch der Natur und der Wirklichkeit diese Kränkung nie verziehen, und in der Geschichte setzte er alles daran, die Wirksamkeit der Wirklichkeit auf ihn immer mehr in den Hintergrund zu drängen. Freiheit ist ein alter Menschheitstraum, auch gegenüber der Natur. Der erste Versuch, die Wirklichkeit in die Defensive zu drängen, erfolgte mit dem Mythos. Der Mythos gilt zu Recht als Vorläufer der modernen Technik und Rationalität, als er es erlaubte, Unvertrautes als Vertrautes zu behandeln. Was um den Menschen herum und an ihm selbst geschah, wurde mit Erzählungen versehen, es wurde, wie abstrus auch immer, erklärt, und damit war die Voraussetzung dafür geschaffen, auf das begrifflich Fixierte Einfluß zu nehmen. Die Beherrschung der Wirklichkeit begann ganz, ganz langsam Fahrt aufzunehmen.

Mit Beginn der Neuzeit, spätestens als Giambattista Vico (1688–1744) der scholastischen Wahrheitsformel „Verum est ens“ (Das Sein ist die Wahrheit) das moderne Wahrheitsverständnis entgegensetzte („Verum quia factum“, also wahr, weil gemacht), wurden die Mächte der Wirklichkeit weiter in den Hintergrund gesetzt. Mit der „resolutiv-kompositiven Methode“ wurde die Wirklichkeit in ihre Bestandteile zerlegt und wieder zusammengesetzt. So erkannte man die inneren Konstruktionsprinzipien und konnte sie für menschliche Zwecke handhabbar machen. Wie Francis Bacon ausführte, wurde die Natur „auf die Folterbank“ gestellt, um ihr ihre Geheimnisse zu entreißen. Konnte man die Gesetze der Natur zwar nicht außer Kraft setzen, so konnte man sie aber ins Zweckdienliche transformieren – die Natur verliert so in weiten Teilen ihren Schrecken, ja sie wird geradezu überlistet und dient zur Organverstärkung des Menschen.

Mit der Entwicklung der Naturwissenschaften wird der Mythos ersetzt (besser sollte man sagen: ergänzt) durch moderne Wissenschaft und Technik. Die Naturschranke wird zurückgedrängt. Bis auf ärgerliche Restbestände wird die Natur vom Menschen beherrscht, das Dominanzverhältnis von Mensch und Natur kehrt sich um.

Doch schon früh ist erkannt worden, daß sich mit der technischen Naturbeherrschung nicht deren „Humanisierung“ einstellt, sondern deren Vergewaltigung und Unterwerfung, was auf den Menschen zurückfällt. Bei Oswald Spengler, Karl Jaspers, Friedrich Georg Jünger, Ernst Jünger, Martin Heidegger, Max Horkheimer, also Denkern aus den unterschiedlichsten philosophischen und politischen Lagern, findet sich die Erkenntnis, daß mit der „Mechanisierung“ der Welt das technisch-rationalistische Denken auch in die Sphäre des Menschlichen und der Zivilisation Einzug hält.

Die virtuelle Welt der digitalen Revolution ist nichts anderes als geronnene Intelligenz, Entäußerungen menschlicher Bewußtseins- und Kommunikationsprozesse. Außer der Hardware gibt es keinen physikalischen Stein des Anstoßes.

„Eine künstliche Welt durchsetzt und vergiftet die natürliche. Die Zivilisation ist selbst eine Maschine geworden, die alles maschinenmäßig tut oder tun will“, schreibt Oswald Spengler in seinem Werk „Der Mensch und die Technik“ aus dem Jahre 1931. Und Martin Heidegger unterscheidet den „Kreisgang des Gestells“ als Synonym für moderne Technik von der altgriechischen „techne“, wo noch durch handwerkliche Technik Teile des Verborgenen durch menschliche Hand sichtbar gemacht wurden. Diese Tätigkeit war für ihn nicht nur eine Form der Erleichterung des menschlichen Lebens, sie diente als „Vorgang des Entbergens“ auch der Hervorbringung von Wahrheit. Das „Gestell“ dagegen als Gesamtheit aller neuzeitlich-technischen Phänomene impliziert einen unbedingten Willen zur Macht, der auf die völlige Unterwerfung von Natur und Mensch und deren Vernutzung und Beherrschung abziele.

Max Horkheimer erkennt in seiner „Kritik der instrumentellen Vernunft“ die Dialektik von Naturbeherrschung und Naturzwang und schreibt, so als sei er direkt bei Heidegger in die Schule gegangen: „Der Mensch teilt im Prozeß seiner Emanzipation das Schicksal seiner übrigen Welt. Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen. Herrschaft wird um der Herrschaft willen verinnerlicht.“

Die Instrumentierung der Wirklichkeit durch die instrumentelle Vernunft macht so die Selbstinstrumentalisierung des Menschen erforderlich. Diese Erkenntnis können wir auf die jüngste Entwicklung der modernen Technik übertragen: die digitale Revolution. Mit ihr schafft sich der Mensch eine eigene Wirklichkeit. Der ersten Wirklichkeit wird eine zweite zur Seite gestellt. Der realen Welt folgt eine virtuelle Welt, eine Welt, die sich dem Menschen nicht widersetzt, sondern die ihm von Anfang an, so scheint es, gefügig ist. Denn sie ist nichts anderes als geronnene Intelligenz, Entäußerungen menschlicher Bewußtseins- und Kommunikationsprozesse. Außer der Hardware gibt es keinen physikalischen Stein des Anstoßes.

Mit der Verdopplung von Welt und Wirklichkeit durch den Hinzutritt der digital gesteuerten virtuellen Welt verliert die „alte“ Welt zusehends an Bedeutung. Auch in dieser Beziehung kann man von einem „postfaktischen“ Zeitalter sprechen. Ralph Keyes hat in seinem Buch „The Post-Truth Era“ diesen Begriff geprägt. „Postfaktisch“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 ausgewählt. Die öffentliche Debatte gebraucht diesen Begriff in der Bedeutung, daß man es insbesondere in der Politik mit der Wahrheit nicht mehr so genau nehme (und orientiert sich am zurückliegenden US-Wahlkampf).

Im Gegensatz dazu verstehen wir hier unter „postfaktisch“, daß die neue virtuelle Wirklichkeit die „alte“ Realität entwertet. Nicht nur die Gegenwart verschwindet durch die globalisierte Beschleunigung der gesellschaftlichen Kommunikation, wie Michael Jaeger in seiner Faust-Interpretation feststellt; auch die ursprüngliche Wirklichkeit gerät gegenüber der neuen virtuellen Wirklichkeit ins Hintertreffen. Zunehmend beugt sich die alte Wirklichkeit der neuen. Entscheidend ist nicht mehr, was Fakt ist – entscheidend ist, was im Netz kommuniziert wird. Die neue virtuelle Wirklichkeit erscheint zusehends als die entscheidende wirkliche Wirklichkeit, die „alte“ Wirklichkeit liefert lediglich die stoffliche Basis, sie wird akzidentiell.

Das neue Zeitalter ist postfaktisch, weil es die Stofflichkeit der Wirklichkeit zurückdrängt und trivialisiert. Im Cyber-Krieg kommt es nicht mehr darauf an, die Waffen sprechen zu lassen, es reicht, wenn man die Software des Feindes außer Kraft gesetzt hat. In der Wirtschaft interessiert die stoffliche Qualität des Geldes nicht mehr, Geld wird zu einer Ziffer. Die Kommunikation der Menschen löst sich von ihrer Leiblichkeit; Kommunikation ist nicht mehr interaktionsgebunden, intelligente Maschinen können das für uns regeln. Beim Gender Mainstreaming wird die Geschlechterrolle optional, sie löst sich von ihrer stofflich-biologischen Basis. Nationen werden nicht mehr durch Faktizitäten wie Ethnie, Sprache oder kulturelle Überlieferung bestimmt, sondern lediglich durch Bekenntnisbekundungen („Wertegemeinschaft“) konstituiert (weshalb die Political Correctness eine solche dominante Rolle spielt).

Psychologisch gesehen löst sich die Realpräsenz des Menschen durch eine virtualisierte Präsenz ab. Die Person, die in Zeiten der Dominanz direkter Interaktion und Kommunikation noch für das „Alter ego“ jenseits aller Selbstinszenierungen erlebbar war, verschwindet ganz hinter der digitalisierten Fassade der narzißtischen Theaterstücke auf der gesellschaftlichen Bühne. Der Mensch baut eine Präferenz-Welt um sich herum, und die intelligenten Maschinen betrachten die Individualität des Menschen nach erfolgtem Profiling nur noch als Präferenzbündelung.

Der Mensch wird auch in der virtualisierten Wirklichkeit nicht das Reich der Freiheit finden. Der faustische Traum von der prometheischen Befreiung erweist sich wieder einmal als Schimäre: Die Geister, die der Mensch rief, werden sich gegen ihn wenden.

Man fragt sich, ob mit dieser Zurückdrängung der Wirklichkeit nicht eine neue, schöne und besonders komfortable Welt für den Menschen entsteht. Betreten wir da nicht das Reich der Freiheit, weil der Mensch wirklichkeitsentlastet morgens fischen, mittags dösen und abends dichten kann? Jedenfalls hat Karl Marx von diesem Zustand der Aufhebung von Arbeitsteilung geträumt und ihn als Kommunismus beschrieben. Was passiert mit dem Menschen, wenn digitalisierte Maschinen mit Umgebungsintelligenz wie Roboter für uns die Arbeit machen, wenn wir tatsächlich von den Sachzwängen der Wirklichkeit entlastet werden?

Für Arnold Gehlen ist die „Sachumleitung“ der menschlichen Motivation durch soziale und physische Gegenstände und Wirklichkeiten anthropologisch unbedingt erforderlich, damit der Mensch ein Kulturwesen ist und bleibt. Der Austritt aus dem Reich der Notwendigkeit würde aber genau diesen für das Innenleben des Menschen stabilisierenden Entlastungseffekt zunichte machen. Es entsteht dann eine an Wirklichkeit anschlußunfähige Subjektivität, ein Raffinement des Subjektiven gepaart mit exaltierten Wollungen. Wie der Mensch seinen Orientierungssinn verliert, wenn er sich immer nur mit einem Navigationsgerät bewegt, so führt die neue digitalisierte Wirklichkeit zu einer Kompetenzverlagerung; er droht zu primitivisieren.

Ohne Sachumleitung durch die Widerständigkeit eines Objekts bekommen die Subjekte Identitätsprobleme. Sie sind gleichsam in ihrer Subjektivität gefangen, sie scheitern an sich selbst, weil sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigen können. Langfristig entsteht in dieser Überfülle des Subjektiven Leere, genauso wie es Friedrich Georg Jünger in seiner generellen Technikkritik beschrieben hat. Unruhe, Nervosität gepaart mit Panikattacken, Sinnentleerung und Depression sind die psychologischen Begleitfolgen der technischen und auch digitalisierten Moderne. War früher über den Umweg der Sacherfahrung eine Gemeinschaftsbildung unter Menschen möglich (wenn Gefahr droht, halten Menschen oftmals zusammen), so stößt heute unter den Bedingungen der virtualisierten Wirklichkeit der Egoismus des einen Egos brutal und unvermittelt auf das andere Ego, das genauso seine vermeintlichen Rechte einfordert. Die Grenze der alten Wirklichkeit ist heute fast ausschließlich das andere Ego. Die Grenzen des Subjekts sind unter diesen Bedingungen nicht mehr Naturwirklichkeiten, es sind die Interessen anderer Subjekte.

Die neue virtuelle Wirklichkeit ist so viel „bellizistischer“ als die Präsenz der „alten Wirklichkeit“, die den Menschen durch den Sachzwang des Realen zur Demut genötigt hat. So wird der Mensch ganz im Sinne von Max Horkheimer auch in der virtualisierten zweiten Wirklichkeit nicht das Reich der Freiheit finden. Der faustische Traum von der prometheischen Befreiung des Menschen erweist sich wieder einmal als Schimäre: Die Geister, die der Mensch rief, werden sich gegen ihn wenden und neue Abhängigkeiten und Faktizitäten schaffen. 






Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er führt in einer Doppelspitze das Studienzentrum Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Transformation des Rechtsstaats hin zum Verhandlungsstaat („Ungleichheit vor dem Gesetz“,     JF 35/16).

Foto: Menschen, die über ihr Smartphone kommunizieren: Gefahr einer an Wirklichkeit nicht mehr anschlußfähigen, in sich selbst gefangenen Subjektivität