© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Verlogener Mythos einer multikulturellen Idylle
Al-Andalus und die „Ungläubigen“: Vor 950 Jahren fand in Granada ein Massaker von Muslimen an mehreren tausend Juden statt
Lydia Conrad

Das muslimische Herrschaftsgebiet Al-Andalus auf der Iberischen Halbinsel war niemals das multikulturelle Paradies, von dem manche Historiker und Islam-Apologeten so gerne schwärmen. Das galt auch und gerade für die Periode der Taifas, diverser Kleinkönigreiche, die im Anschluß an den Zerfall des Kalifats von Córdoba ab dem Jahre 1009 entstanden. Davon zeugt unter anderem die Situation in Granada, wo 1013 Berber aus der nordafrikanischen Dynastie der Ziriden an die Macht gelangten. 

Unter ihnen entwickelte sich nämlich eine Art religiös-ethnischer Apartheid, in der Christen und Juden definitiv als Menschen zweiter Klasse galten und permanente Demütigungen durch Berufsverbote, diskriminierende Kleidervorschriften und ähnliches erfuhren. Das schloß freilich nicht aus, daß einige Anhänger des mosaischen Glaubens aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten in hohe Positionen gelangen konnten. An erster Stelle zu nennen wäre hier der aus Córdoba stammende Rabbi Schmuel Ibn Naghrela, welcher 1038 zum Du-l-Wizaratayn avancierte, also dem Inhaber der beiden Wezirate der Feder und des Schwerts.

Nachfolger in diesem Amt wurde 1056 sein Sohn Yehosef – sehr zum Ärger eines arabisch-muslimischen Beraters von König Badis Ibn Habbus namens Abu Ishaq al-Ilbiri. Dieser beklagte die angebliche Herrschaft der „ungläubigen“ Juden in Granada und hetzte zudem mit neidischem Blick auf den Wezir: „Eilt, um ihm die Kehle durchzuschneiden; er ist ein feister Hammel, nehmt ihm sein Geld weg, denn ihr verdient es eher als er!“ Doch das fruchtete zunächst nichts, weshalb Abu Ishaq 1066 außerdem noch das Gerücht in Umlauf brachte, der Jude habe zwei Jahre zuvor den designierten Thronfolger von Granada, Buluggin Ibn Badis, vergiften lassen und plane nun gemeinsam mit der in Almeria herrschenden, konkurrierenden Dynastie der Banu Sumadih den Sturz der Ziriden – vielleicht sogar, um ein eigenes jüdisches Reich zu begründen.

Erster großer Judenpogrom europäischer Geschichte

Das führte dazu, daß Massen wütender Berber vom Volk der Sinhaga am 30. Dezember 1066 den Palast von Badis stürmten und dessen Wezir Yehosef an Ort und Stelle kreuzigten. Anschließend begaben sich die Muslime in die Stadt und massakrierten dort bis zum Abend dieses Sabbat-Tages rund 1.500 jüdische Familien, wobei wahrscheinlich um die 4.000 Personen starben. So berichten es jedenfalls das knapp einhundert Jahre später entstandene Geschichtswerk „Sefer ha-Kabbalah“ des jüdischen Chronisten Abraham Ibn Daud sowie auch arabische Quellen wie die Schriften von Ibn Idhari und Ibn al-Jatib.

Die weitgehende Auslöschung der jüdischen Gemeinde von Granada war der erste große Judenpogrom der europäischen Geschichte. Damit gebührt den Muslimen und nicht etwa deutschen Kreuzfahrern um die Priester Volkmar und Gottschalk sowie den Grafen Emicho das Primat auf diesem Gebiet, wie ebenfalls häufig kolportiert wird. Letztere begannen nämlich erst 1096 mit ihren Übergriffen gegen Juden im Rheinland und anderswo. Darüber hinaus schätzt der Historiker Dario Fernández-Morera von der Northwestern University in Illinois, daß dabei auch deutlich weniger Menschen zu Tode kamen als bei dem Gewaltausbruch der Berber in Andalusien: Dessen Dimensionen seien wohl kaum vor 1298 übertroffen worden, als der Rintfleisch-Pogrom in Franken 4.000 bis 5.000 Opfer gefordert habe.

Ansonsten mußte die jüdische Gemeinde von Granada später noch eine zweite Heimsuchung erleben: Nachdem sie sich bis 1090 wieder etwas konsolidieren konnte, eroberten die fundamentalistischen Almoraviden aus dem westlichen Maghreb unter ihrem Sultan Yusuf Ibn Taschfin die Stadt und stürzten den letzten Ziridenherrscher Abdallah Ibn Buluggin. Anschließend wiesen die neuen Machthaber sämtliche Juden aus, wonach viele in den christlichen Norden der Iberischen Halbinsel flüchteten, wo man zu dieser Zeit noch die Toleranz lebte, welche den Muslimen nun endgültig abging. Damit kam ein Vierteljahrhundert nach dem Massaker von Granada das unwiderrufliche Ende des angeblich „goldenen Zeitalters“ des Judentums in Al-Andalus.