© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Pankraz,
J. le fataliste und sein armes Herrchen

Zweitausendsechzehn wird wohl als Oben-Unten-Jahr in die Geschichte eingehen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, so wurde einem Tag für Tag beigebracht, werde immer tiefer, sie zerreiße die Gesellschaft und führe zu Diktatur und Freiheitsverlust. Betroffen davon seien natürlich nur „die da unten“, die Armen und Abgehängten. Sie würden peu à peu zu bloßen Knechten für „die da oben“ gemacht, für die Reichen und Mächtigen, die „Herren“, die machten, was sie wollten.

Was passiert aber eigentlich mit den „Herren“, die so reich sind, daß sie nichts mehr selber machen müssen, weil sie alles mit knappem Befehlston herbeikommandieren können?  Sie „genießen“ ihren Reichtum und ihre Macht, vernimmt man. Aber was heißt denn genießen? Ist es auf Dauer wirklich genußvoll, lediglich zuzusehen, wie andere arbeiten, neue Sachen herstellen, Konflikte lösen, Auswege finden? Ist das Bewußtsein bloßer Potentialität wirklich erquicklicher als die anschließende reale Tat? Wer ist der Zufriedenere und Glücklichere, der Herr oder der Knecht?

Vor 250 Jahren, irgendwann im Jahr 1766, beendete der berühmte Enzyklopädist Denis Diderot die Arbeit an einem Buchmanuskript, das genau diesem Thema „Herr und Knecht“ gewidmet war. Er hatte als Titel „Jacques le fataliste et son maître“ darübergeschrieben und schmiß die Seiten nun unzufrieden in die Schublade, wo sie jahrzehntelang vor sich hin moderten. Erst nach seinem Tod 1784 entdeckte man das Manuskript und gab es zum Druck. Es machte sofort Sensation.


Der junge Schiller übersetzte es ins Deutsche und zeigte es Goethe. An der Universität Jena wurde es zum festen Bestandteil philosophisch-anthropologischer Seminare und fiel später dem Dozenten Georg Wilhelm Friedrich Hegel in die Hände, der das Thema zum zentralen Gegenstand seiner „Phänomenologie des Geistes“ machte. Herr und Knecht, so konnte man dort lesen, sind keine konstanten Größen, auch wenn ihre soziale Stellung zueinander gleich bleibt. Der Knecht, der Diener, der Ausführer gewinnt allmählich Macht über den Herrn, dieser wird von ihm abhängig und läßt sich von ihm gängeln. 

Schon Jacques le fataliste, der Diener in dem Buch von Diderot, ist keineswegs selber ein verkappter Herrenmensch, der es schlau darauf anlegt, eines Tages die Macht zu übernehmen. Er verrichtet im Gegenteil mit Biedersinn und ohne die geringste Aufmüpfigkeit seine ihm zugewiesene Dienerfunktion – und gewinnt zu seinem eigenen Erstaunen gerade dadurch Macht über den Herrn. Er ist im Grunde ein Algorithmus avant la lettre, registriert mechanisch, was der Herr gewohnheitsmäßig wünscht, sammelt Big Data und erzeugt so ein Klima der Notwendigkeit, dem sich der Herr unterwirft.

Eine Zeitlang mag dieser sich noch einbilden, daß wenigstens er es sei, der den allgemeinen Kurs vorgibt, doch auch damit irrt er sich gründlich. Seine Potentialität, seine Befehlsgewalt, ist längst verblaßt. Auch den großen Lauf der Dinge regeln andere Instanzen, die alle in der realen Arbeits- und Vollzugswelt angesiedelt sind, Knechte im ursprünglichen Sinne, Vermögensverwalter statt Vermögenseigner, Manager statt Besitzer, angestellte Stiftungsvorsteher statt großzügige Stifter mit Privatabsichten.

Letztlich haben Superreiche, falls ohne Arbeitsvertrag und individuelle Spezialbegabung, hierzulande weniger zu sagen als ein beliebiger kleiner Arbeitnehmer an irgendeiner Werkbank. Angehörige großer Familien, die nur von ihrem Reichtum leben, sind heute faktisch aus dem „öffentlichen Diskurs“ ausgeschlossen. Äußern sie sich einmal zu diesem oder jenem, werden sie von den Medien mit äußerstem Mißtrauen beäugt, stehen von Anfang an unter Korruptionsverdacht und müssen froh sein, wenn sie wenigstens in einer halbvergessenen Unterhaltungssendung über die Reichen und Schönen landen.


In früheren Zeiten galten „die da oben“ oft weithin als Vorbild und Nachahmobjekt, als Stilgeber in vielen Lebensbereichen, von der Kleidermode bis zu der Art zu sprechen und zu gestikulieren. Davon kann heute längst keine Rede mehr sein. „Die da oben“ haben sich ihrerseits dem vom Internet geprägten Massengeschmack angepaßt und werden von den übrigen „Usern“ daran gemessen, inwieweit es ihnen gelungen ist, den Jargon der Uneigentlichkeit nachzubuchstabieren. Genußreich ist derlei Einordnung gewiß nicht.

Gewiß, man hat, im Gegensatz zu „denen da unten“, keine aktuellen Geldsorgen, muß sich nicht um steigende Wohnungspreise, Steuern oder Mieten sorgen, besitzt eine eigene Villa plus Zweitwohnungen in schönen, kuschligen Weltgegenden, hat eine stattliche Yacht im nächsten Hafen schaukeln. Aber mit den spirituellen Sehnsüchten, deren partielle Stillung ja zweifellos zu einem guten Leben dazugehört, steht es bei den „oberen Zehntausend“, wie man einst zu formulieren pflegte, um so schlimmer, dafür hat die moderne Massen- und Algorithmengesellschaft gründlich gesorgt. Und ihr Würgegriff wird immer härter.

Aus der Perspektive von Diderots Jacques le fataliste gesprochen: Die Plätze sind eindeutig  vertauscht, die Knechte haben jetzt ihre Herrchen an der Leine und nicht umgekehrt. Ob sich damit aber die Welt verbessert, ist höchst ungewiß. Der „Fatalist“ Jacques glaubt es nicht. Lebte er heute noch, würde er wahrscheinlich ausrufen: „Und das passiert ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da alle Knechte ohnehin zu Herrchen werden, indem die Roboter ihnen die Arbeit abnehmen und sie zu bloßen Befehlsgebern, nämlich zu Knopfdruckspezialisten degradieren! Wehe uns!“

Ja, wehe uns. Das Seelenleben des Menschen eine einzige Ansammlung von Knechtsnaturen. Oder gibt es doch noch irgendwo einen Durchgang zu edleren Gefilden? Der echte Fatalist von 1766 räsoniert jedenfalls einmal so: „Wenn wir die Natur beobachten, stellen wir fest, daß sie die Seele des Menschen in seinem Körper wie in einem weiträumigen Palast untergebracht hat – allerdings nicht immer in den schönsten Quartieren.“