© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Das Erwartbare ist eingetreten
Terror mitten in Berlin: Ein LKW-Anschlag nach dem Muster von Nizza fordert zwölf Tote / Passanten rufen „Allahu Akbar“
Gil Barkei / Martina Meckelein

Deutschlands Hauptstadt ist durch einen blutigen Anschlag getroffen worden. Zu Füßen der Gedächtniskirche. Fünf Tage vor Heiligabend. Zwölf Menschen wurden ermordet, 45 verletzt, 30 von ihnen schwer. Der oder die Täter sind einen Tag nach der Tat noch flüchtig. 

„Wir sind hochalarmiert, um alle Personen zu identifizieren und um ihrer habhaft zu werden“, sagt BKA-Chef Holger Münch am Tag nach der Tat auf einer Pressekonferenz.

Rückblick: Montag, 19. Dezember. Um 20.02 Uhr steuert ein schwarzer Scania-Laster von der Kantstraße direkt auf den Breitscheidplatz an der Budapester Straße. Mit etwa 65 Stundenkilometern fährt er durch eine enge Gasse, die von kleinen Weihnachtsmarktbuden gesäumt ist. Eigentlich ein Rettungsweg für Feuerwehrfahrzeuge – er wird zur Blutmeile.

Die Menschen, die dort flanieren und die Auslagen bestaunen, haben keine Chance, dem riesigen Fahrzeug zu entkommen. Sie werden zerquetscht, überfahren oder durch die Wucht des Aufpralls zu Boden geschleudert.

Um 20.04 Uhr erreichen die ersten Notrufe die Einsatzzentrale. Da rasen schon  Funkstreifen zum Tatort.

„Wir sind um 20.18 Uhr ins Auto gestiegen. Als benachbarter Funkkreis waren wir nicht die allerersten, aber schätzungsweise die zweiten, die alarmiert wurden“, sagt ein Polizeibeamter der JUNGEN FREIHEIT. „Wir wußten im Grunde nur, daß wir zum Breitscheidplatz müssen, daß da vermutlich ein Terroranschlag wie in Nizza mit einem LKW stattgefunden hat. Noch während der Fahrt dort hin habe ich mir die Maschinenpistole aus  dem Kofferraum geangelt.“

Der Platz wird durch die Beamten abgesperrt. Immer mehr Informationen kommen über den Polizeifunk. Unter anderem auch folgende Täterbeschreibung: „Dunkle Bekleidung, 1,80 groß, Timberlandschuhe.“ Oder: „Flüchtet Richtung Bikinihaus.“ Dann die Information, daß die „Feuerwehr die Leichen abtransportiert und keine Leichensammelstelle eingerichtet werden muß“. Dafür richtet die Polizei eine Zeugensammelstelle ein.

Immer mehr Tote und Verletzte werden geborgen. Im Führerhaus finden die Beamten auf dem Beifahrersitz einen Toten, unter dem LKW und am Radkasten birgt die Feuerwehr später drei Leichen. Mit den acht Toten auf dem Weihnachtsmarkt sind es damit insgesamt zwölf Tote.

Der ermordete polnische Fahrer hat sich gewehrt

Während die Feuerwehr, die Notärzte und Rettungssanitäter um das Leben der Verletzten kämpfen, grölen 400 Meter entfernt an der Nürnberger- Ecke Tauentzienstraße Passanten „Allahu Akbar!“

Eine unter Schock stehende Frau rennt orientierungslos in den Trümmern der Weihnachtsbuden herum. Sanitäter kümmern sich um sie. Später stellt sich heraus, daß sie mit angesehen hatte, wie ihr Mann von dem Lastwagen zermalmt wurde.

Die Länge der Strecke, die der Laster überfuhr, beträgt rund 80 Meter. Zeugen sagten gegenüber den Ermittlern aus, der Wagen sei unbeleuchtet gewesen.

Der nagelneue 40-Tonner (30.000 Kilometer Fahrleistung) ist mit Stahlträgern aus Italien beladen. Er gehört dem polnischen Spediteur Ariel Zurawski aus Frankenberg (Sobiemysl) bei Greifenhagen (Gryfino) in Hinterpommern. Der Stettiner Ausgabe der Gazeta Wyborcza gibt Zurawski ein Interview: „Sie müssen ihm etwas angetan haben.“ Der Fahrer Lukasz U. (37) war sein Cousin, fuhr seit fünf Jahren für die Firma, war verheiratet und hatte einen 17jährigen Sohn. Seine Tour führte ihn am Montag nachmittag zum Friedrich-Krause-Ufer in Berlin-Moabit. Bei einer dort ansässigen Firma sollte er seine Fracht abliefern. Er parkte den LKW gegenüber der Einfahrt zum Firmensitz. Dann habe er sich noch einmal telefonisch gemeldet und darüber geklagt, daß er auf die Entladung bis zum folgenden Tag würde warten müssen. Er verließ noch das Fahrzeug, um sich einen Döner Kebap zu kaufen, da er lange nichts gegessen hatte. Seit 16 Uhr am Montag konnte dann seine Frau keinen Kontakt mehr zu ihrem Mann bekommen.

Was dann der Disponent der Spedition, Lukasz Wasik, in Polen erzählt, scheint rückblickend ein kriminalistischer Puzzelstein zu sein. Wasik hatte die GPS-Daten des LKW ausgewertet. Demnach habe jemand mehrfach den Motor des Scanias gestartet. Um 15.44 Uhr sowie um 16.52 und dann noch einmal um 17.37 Uhr. Der Laster sei allerdings nicht in Bewegung gesetzt worden. Wasik vermutet, daß es sich dabei um Versuche eines Entführers gehandelt haben könnte, das Fahrzeug zu steuern. 

Die Vermutung bestätigt Stunden später die Polizei. Über Twitter gibt sie bekannt: „Der im LKW tot aufgefundene Mann steuerte nach bisherigen Erkenntnissen nicht den LKW, als der in die Menschenmenge am Breitscheidplatz fuhr.“ Das tat jemand anderes. Der Unbekannte startete um 19.45 Uhr den Motor des Sattelaufliegers und fuhr in 15 Minuten die 6,5 Kilometer von der Firma am Friedrich-Kraus-Ufer bis zur Gedächtniskirche.

Nach Angaben des polnischen Nachrichtenportals fakt24.pl wollte die Ehefrau ihren toten Mann nicht identifizieren. Ein Familienmitglied identifizierte ihn schließlich. Nach Informationen von fakt.24.pl soll Lukasz U. im Gesicht viele blaue Flecke gehabt haben. Außerdem will der Verwandte am Körper eine Art Stichwunde erkannt haben.

Verfolgte ein Zeuge den falschen Mann?

Der polnische Brummifahrer wurde laut FAZ mit einer kleinkalibrigen Waffe erschossen. Auf der Pressekonferenz am nächsten Tag bestätigen die Ermittler, daß die Leiche des Fahrers Schußverletzungen aufwies und Kampfspuren. Einigen Medienberichten zufolge sollen Beamte ihn sterbend, anderen Berichten nach tot auf dem Beifahrersitz gefunden haben. Außerdem entdecken die Beamten blutverschmierte Kleidung im Führerhaus.

Ein Zeuge, der sich auf dem Polizei-not­ruf gemeldet hatte, verfolgt zu Fuß kurz nach 20 Uhr einen Mann, von dem er glaubt, daß er aus dem Laster ausgestiegen und der flüchtige Terrorfahrer sei. Immer wieder gibt er seinen Standort über Telefon an die Einsatzzentrale durch. Die Beamten können so, zwei Kilometer vom Tatort entfernt, einen Pakistani festnehmen. Naved B. (23) ist ein polizeibekannter Kleinkrimineller. Er ist erst am 31. Dezember 2015 nach Deutschland eingereist, erklärt Bundes­innenminister Thomas de Maizière.

Der Verdächtige wird festgenommen und verhört, beteuert allerdings in diesem Fall seine Unschuld. Nach der kriminaltechnischen Untersuchung sollen keine Blut- und keine Schmauchspuren an ihm gefunden worden sein. Diese wären aber bei der Spurenlage im Führerhaus zwingend.

Generalbundesanwalt Peter Frank sagt deshalb: „Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß der Festgenommene eventuell nicht der Täter war oder zur Tätergruppe gehörte.“ Die Bundesanwaltschaft hält es damit für möglich, daß zwei Terroristen oder sogar eine ganze Terrorgruppe hinter dem Anschlag stehen. Alarmierend, daß der oder die Täter, 20 Stunden nachdem zwölf Menschen ermordet wurden und immer noch 25 Verletzte in den Kliniken liegen, frei herumlaufen. Auch die Schußwaffe ist nicht gefunden worden. Am Dienstag abend wird der Beschuldigte von der Bundesanwaltschaft mangels dringenden Tatverdachts auf freien Fuß gesetzt.

Die Tat in Berlin erinnert an den 14. Juli in Nizza. Am französischen Nationalfeiertag hatte der Terrorist Mohamed Bouhlel mit einem LKW 86 Menschen auf der Strandpromenade ermordet.

Ob der Terroranschlag einen islamistischen Hintergrund hat, ist einen Tag nach der Tat noch nicht geklärt. Es gibt kein Bekennerschreiben. (cd, krk, ls, mj, mv, ru)



Chronik des islamistischen Terrors 2016 in Deutschland

8. Oktober

Polizisten stellen in der Chemnitzer Wohnung des im Februar 2015 als Flüchtling nach Deutschland eingereisten Syrers Dschaber al-Bakr etwa 500 Gramm Sprengstoff sicher. Al-Bakr wurde nach Hinweisen aus US-Geheimdienstkreisen observiert, da er im Verdacht stand, einen Bombenanschlag auf den Flughafen Berlin-Schönefeld zu planen. Der Verdächtige kann zunächst flüchten, wird aber einen Tag später in der Leipziger Wohnung zweier Landsleute, die die Polizei informierten, festgenommen.  Am 12. Oktober erhängt sich al-Bakr in der Untersuchungshaft der JVA Leipzig.

24. Juli

Sprengstoffanschlag in Ansbach (Bayern). Der polizeibekannte Syrer Mohammed Daleel (27), seit zwei Jahren in Deutschland, zündet auf dem Musikfestival „Ansbach Open“ eine Rucksackbombe. Der „Islamische Staat“ reklamiert den Anschlag für sich. Der Attentäter kommt ums Leben, 14 Menschen werden verletzt.

18. Juli

Angriff mit Hieb- und Stichwaffe in einem Regionalzug bei Würzburg (Bayern). Der Attentäter, der angeblich minderjährige, unbegleitete afghanische Flüchtling Riaz Khan Ahmadzai (17) schlägt mit einer Axt auf Fahrgäste ein. Der Täter, später stellt er sich als Pakistani heraus, lebte seit elf Monaten in Deutschland. Der „Islamische Staat“ bekennt sich zu dem Anschlag für. Ein Toter (Täter von der Polizei erschossen), fünf zum Teil Schwerstverletzte.

2. Juni 

Die Polizei nimmt drei mutmaßliche IS-Kämpfer in Brandenburg, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen fest. Ein vierter hatte sich zuvor in Frankreich den Behörden gestellt und die Terrorzelle verraten. Die Syrer hatten sich als Flüchtlinge getarnt.  Ihnen wird vorgeworfen, im Auftrag des IS einen Anschlag in der Düsseldorfer Altstadt nach dem Muster der Pariser Attacken geplant zu haben: Zwei Männer sollten sich in die Luft sprengen, die anderen zwei sollten dann mit Schußwaffen auf Passanten losgehen.

20. April

Bombenanschlag auf einen Sikh-Tempel in Essen (Nordrhein-Westfalen). Die Attentäter  Yussuf T.  und Mohammed B. sind mutmaßliche Sympathisanten des „Islamischen Staates“. Der Haupttäter Yussuf T. soll sich bei der Koran-Verteilaktion „Lies“ engagiert haben.  Drei Verletzte.

26. Februar 

Messerattacke in Hannover (Nieder­sachsen) auf einen Polizeibeamten. Die Tatverdächtige Safia S. (15), eine mutmaßliche Sympathisantin des IS, greift einen Polizisten im Bahnhof mit einem Gemüsemesser an und verletzt ihn lebensbedrohlich am Hals. Ein Schwerverletzter.