© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Krise und Kritik
Christian Vollradt

Zwei Dinge zeichnen diesen Ort besonders aus: Exklusivität und Diskretion. Das ist in Berlin-Mitte, wo es zuweilen recht laut zugeht, keine Selbstverständlichkeit. Hier im ehemaligen Reichstagspräsidentenpalais am Friedrich-Ebert-Platz – direkt gegenüber dem Osteingang des Reichstags – aber schon, denn dies ist seit 1999 der Sitz der Parlamentarischen Gesellschaft. 

Mitglied dieses politisch-gesellschaftlichen Clubs kann nur werden, wer Abgeordneter des Bundestages, eines der sechzehn Landtage oder des Europäischen Parlaments ist (oder war). Und unter den Stuckdecken des denkmalgeschützten Palais können – abgeschirmt vor neugierigen Blicken – politische Freunde oder Kontrahenten den ungezwungenen Austausch pflegen, aber auch im Schlagabtausch erlittene Blessuren heilen, während Herren in Livree den einen oder anderen Drink reichen. 

Auch für Veranstaltungen in gediegenem Ambiente ist dieser Ort bestens geeignet. Und so erscheint es nur auf den ersten Blick widersprüchlich, hier – wo alles das Selbstbewußtsein einer demokratisch legitimierten Volksvertretung atmet – über die „Krise des Parlamentarismus“ zu sprechen. Vergangene Woche tat dies der Freiburger Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek auf Einladung der AfD-nahen Brandenburger Erasmus-Stiftung. 

Die Rede von „Krise des Parlamentarismus“, so betonte der Referent gleich zu Beginn, sei nicht zu verwechseln mit dem, was allzu oft, doch fälschlicherweise darunter verstanden werde: nämlich „daß die etablierten Parlamentsparteien unter Wählerschwund leiden und daß die ‘populistischen Kräfte’ im Aufwind“ seien. Eine neue Konkurrenz für die Platzhirsche sei jedoch keine Krise des Parlamentarismus, so Murswiek. „Und es ist keine Gefahr für die Demokratie, wenn Abgeordnete, die in der Vergangenheit fast sicher mit ihrer stetigen Wiederwahl rechnen konnten, jetzt um ihre Mandate bangen müssen.“

Ein Krisensymptom des Parlamentarismus sieht der Freiburger Hochschullehrer ganz woanders: Daß nämlich führende Politiker nicht mehr interessiere, „wen sie eigentlich repräsentieren, ja wenn es ihnen sogar peinlich zu sein scheint, daß sie dem Volk zu dienen haben, und zwar nicht irgendeinem, sondern einem bestimmten.“ Vom Volk, geschweige denn vom deutschen Volk scheue man sich zu reden, kritisiert Murswiek – in Sichtweite der vor hundert Jahren angebrachten Widmung über dem Reichstagsportal. Es sei zwar durchaus angebracht, daß die Regierung auch den Interessen der Bevölkerung dient; das liege im Gemeinwohlinteresse des Volkes. „Aber was konkret dem Gemeinwohl dient, wird in einem Willensbildungsprozeß konkretisiert, der vom Subjekt der Demokratie ausgeht“, und das seien nun mal hierzulande die deutschen Staatsbürger.  

Doch der Referent, der als Rechtsbeistand für den früheren CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler vor dem Bundesverfassungsgericht manches parlamentarische Recht zurückerstritten hat, gab sich durchaus optimistisch: Denn „jede Krise ruft die Kräfte auf, sie zu überwinden“. Das sollten die Zuhörer offensichtlich als Aufforderung verstehen.