© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Im Gegenwind
Innenpolitischer Jahresrückblick: Für die erfolgsverwöhnte Bundeskanzlerin war 2016 mit markanten Umbrüchen verbunden
Paul Rosen

Das Jahr 2016 langweilig zu nennen wäre die Untertreibung des Jahres. Schon lange spürbare Risse im politischen Betrieb wurden größer. International wie national weht der Wind der Veränderung so heftig wie seit dem Mauerfall nicht mehr. Kriege, Terrorismus und Flüchtlingsströme beherrschen Debatten und Schlagzeilen – und mittendrin war eine Kanzlerin Angela Merkel zu erleben, die den Zenit ihrer Macht 2015 („Wir schaffen das“) erreichte und sich seitdem auf dem Abstieg befindet. 

Sicherheitsgefühl wich     dem Gefühl der Bedrohung

Als Mazedonien am 9. März 2016 die Balkanroute schloß und damit den Flüchtlingsstrom fast zum Erliegen brachte, keimte Hoffnung, daß sich die Probleme in und für Deutschland ebenfalls reduzieren würden. Mit dem am 18. März geschlossenen Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei schien auch Merkel ein Erfolg gelungen zu sein. Seitdem die Türkei unter Erdogans Führung neoosmanisch wird, wurde aus dem vermeintlichen Sieg ein Mühlstein für Merkel – sie muß sich fragen lassen, warum sie sich mit zweifelhaften Gestalten wie Erdogan einläßt. 

Außerdem war schon spätestens mit der Kölner Silvesternacht klar geworden, daß sich im Land grundlegend etwas verändert hatte. Flüchtlinge begannen das Bild in den Großstädten zu prägen. Während die Bundestagsparteien die angeblichen Chancen der Migration würdigten, häuften sich die Klagen über Kriminalität und Verwahrlosung im öffentlichen Raum. Das Sicherheitsgefühl vieler Menschen wich einem Gefühl der Bedrohung. 

Merkel versuchte eine Kursänderung: „Eines ist klar. Wir wollen die Zahl der Flüchtlinge spürbar reduzieren. Daran arbeiten wir mit Nachdruck“, erklärte die Regierungschefin schon im Januar. Aber der Druck vor allem aus Reihen der CSU wuchs weiter. In der bayerischen Schwesterpartei schien der ein Jahr zuvor längst fürs Altenteil bestimmte Vorsitzende Horst Seehofer mit jedem Angriff auf die Kanzlerin jünger zu werden. Sein Satz „Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts“ war sicher die Attacke des Jahres.

Wie ein Flammenzeichen an der Wand wirkte der Anschlag islamischer Terroristen in Brüssel am 22. März 2016. Auch Deutschland, wo Sicherheitsbehörden in der Vergangenheit durch Glück und Verstand fast alle Taten von Islamisten hatten verhindern können, erlebte im Juli in Ansbach und Würzburg die ersten islamistischen Anschläge. 

Die  Umbrüche manifestierten sich in Wahlen. Am 18. März zog die Alternative für Deutschland (AfD) in die Landesparlamente von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt ein – sogar überall zweistellig. Im einstigen CDU-Stammland Baden-Württemberg wurden die Grünen zum zweiten Mal stärkste Partei und nahmen die jahrzehntelang herrschenden Christdemokraten als Juniorpartner mit in die Regierung. In Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt waren nur noch Dreier-Koalitionen möglich – auch ein Zeichen der Veränderungen. 

Überraschend kündigte Bundespräsident Joachim Gauck seinen Verzicht auf eine zweite Wahlperiode an. Er vergrößerte damit die Probleme für Merkel, die von ihrem Vizekanzler, dem SPD-Vorsitzenden über Wochen mit dem SPD-Kandidaten Frank-Walter Steinmeier vorgeführt worden war. Nach längerer erfolgloser Suche stimmte Merkel der Personalie Steinmeier zu. Damit bewahrheitete sich wieder einmal, daß sich Gabriel zwar nicht beim Wähler, aber bei der CDU/CSU durchsetzt. 

Die Wähler in der Welt und in Europa werden ohnehin immer unberechenbarer. Fest vertraut hatte man in Berlin auf den Verbleib Großbritanniens in der EU. Es kam am 23. Juni anders. Seitdem wird auch in Berlin an einem „harten“ Brexit“ gestrickt, obwohl Vorsicht angebracht wäre. Die Briten zahlen bisher rund 15 Milliarden Euro jährlich netto für die EU. Wenn das Geld fehlt, muß Deutschland mehr bezahlen. Die riesigen deutschen Exporte nach Großbritannien müßten durch ein Handelsabkommen abgesichert werden. Doch dazu kommt kein Wort von der Bundesregierung.  

Statt dessen klammerte sich die Politik an den Erhalt von 16.000 Arbeitsplätzen beim Lebensmittelmarkt Kaiser’s. Der mit dem Verkauf des Roboterherstellers Kuka an die Chinesen begonnene Ausverkauf deutscher Zukunftstechnologie interessierte in Berlin dagegen niemanden.  

Auch die Wähler in Deutschland blieben unzuverlässig. „Aus dem Sinkflug kann auch ein Sturzflug werden, kann auch ein Absturz werden“, hatte Seehofer nach den März-Wahlen zur Lage der CDU geahnt. So kam es: In Mecklenburg-Vorpommern ging die CDU mit dem dritten Platz hinter SPD und AfD nach Hause. Auch in Berlin sah man die AfD in vielen Stadtteilen an der CDU vorbeiziehen. 

Ebenso wie den Brexit hatten die Berliner Politik und die deutschen Medien einen Sieg von Donald Trump bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen nicht auf dem Radar. Das Entsetzen war so groß, daß selbst die Wahl des Establishment-Kandidaten Alexander Van der Bellen in Österreich nur noch kurzzeitigen Jubel auslöste. Das Verhältnis Berlins zu Trump, der vom Bundespräsidenten-Kandidaten Steinmeier als „Haßprediger“ beleidigt worden war, dürfte genauso schwer wieder in Odnung zu bringen sein wie das Verhältnis zu Rußland, das auf Berliner Mitbetreiben hin wieder eine Verlängerung der Sanktionen hinzunehmen hat, die aber der deutschen Wirtschaft mehr schaden als der russischen. 

Und die deutsche Politik hat sich gegen Amerika, Rußland und auch Eu-ropa isoliert, wo Merkels letzter großer Freund, der französische Staatspräsident François Hollande, 2017 nicht mehr kandidiert. Dabei fangen die Probleme in Europa erst richtig an, da Italien politisch und finanziell instabil zu werden droht. 

Zuletzt endete der CDU-Parteitag mit einer Katastrophe für Merkel. Zwar wurde sie mit einem halbwegs tolerablen Ergebnis wiedergewählt, doch mit dem gegen ihren Willen erfolgten Beschluß gegen die doppelte Staatsangehörigkeit fielen ihr die Delegierten in den Rücken. Wer solche Parteifreunde hat, braucht keine Gegner mehr. Doch auch davon hat Merkel mehr als genug.