© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

„Wie eine Bombe im Vatikan“
Der seit Jahren schwerste Anschlag auf Christen erschüttert Ägypten. Wieder trifft es die Kopten, die eigentlichen Ureinwohner des Landes, so Ezzat Boulos vom Online-Dienst Copts United
Moritz Schwarz

Herr Boulos, die Nachrichtenagenturen sprechen von einem „Anschlag auf das Herz der Kopten in Ägypten“. Stimmt das?

Ezzat Boulos: Ja, denn die Kairoer Markuskathedrale ist das Zentrum der Kopten und Sitz unseres Oberhauptes, Patriarch Tawadros II., dem 118. Nachfolger des Evangelisten Markus. Zum Vergleich: Für uns Kopten ist dieser Anschlag so wie für Sie, wenn Terroristen eine Bombe im Vatikan gezündet hätten! Allerdings: Das Ziel war die Kirche Sankt Peter und Paul, die zwar zum Sankt-Markus-Komplex gehört, zum Glück aber nicht die Markuskathedrale selbst. 

Warum wurde nicht die Markuskathedrale direkt angegriffen? 

Boulos: Weil sie zu gut gesichert ist. Allerdings steht Sankt Peter und Paul nur wenige Meter daneben. Übrigens ist das die Kirche, in der der ehemalige Uno-Generalsekretär Boutros Ghali beerdigt ist, dessen Vorfahr, der damalige ägyptische Ministerpräsident, Sankt Peter und Paul 1911 erbaut hat. 

„Es war der massivste Anschlag seit Jahren“, schreibt der „Spiegel“. Dabei sollen mindestens 25 Gläubige während des Gottesdienstes zerrissen und 35 verletzt worden sein.

Boulos: Stimmt, zwar wurden in den letzten fünf Jahren seit dem Arabischen Frühling in Ägypten etwa neunzig Kirchen niedergebrannt oder zerstört. Dabei ist aber niemand getötet worden. Nun gab es auf einen Schlag 25 Tote im Herzen der koptischen Christenheit. 

Allerdings ist das doch keineswegs das erste Massaker an Kopten? 

Boulos: Richtig, ich erinnere etwa an die Koscheh-Massaker 1998 und 2000 mit zusammen 21 Toten, an das von Nag-Hammadi 2010 mit acht Opfern, an die Massaker von Imbaba und von Alexandria 2011 mit 15 und 21 ermordeten Kopten oder an die Enthauptung von 21 koptischen Gastarbeitern 2015 durch Islamisten in Libyen – um nur die schlimmsten Beispiele zu nennen. 

Warum hat der Anschlag jetzt im Advent stattgefunden – etwa wegen des bevorstehenden Weihnachtsfests?

Boulos: Da er noch nicht aufgeklärt ist, kann ich die Frage nicht beantworten. Natürlich ist dieser Zusammenhang nicht auszuschließen. Andererseits war am gleichen Tag, dem 11. Dezember, auch ein Festtag Mohammeds, auch das könnte ein Grund sein. Oder: Kurz zuvor gab es einen Anschlag auf sechs Polizisten. Steht der Anschlag vielleicht in Verbindung damit? Ich vermute ja, er zielte eigentlich nicht auf die Kopten, sondern auf die Wirtschaft Ägyptens. 

Ein Anschlag auf eine Kirche? 

Boulos: Ja, ich vermute, es geht darum, Ägypten erneut als unsicheren Ort in die Schlagzeilen zu bringen, damit die Touristen wegbleiben. Denn Tourismus ist für Ägypten sehr wichtig und gerade jetzt, wenn in Europa Winter ist, ist bei uns Touristensaison! Und uns Kopten hat es getroffen, weil wir ein leichtes Ziel sind und die Salafisten uns hassen. 

Inzwischen hat sich allerdings der Islamische Staat zu dem Anschlag bekannt. 

Boulos: Ich glaube, er lügt und versucht lediglich ihn als Trittbrettfahrer für seine Propaganda zu vereinnahmen.

Wer steckt dann dahinter?

Boulos: Wie gesagt, vermutlich die Moslembrüder. Klar ist, daß der dabei getötete Haupttäter zu ihnen gehörte. 

Sie sprachen eben von Salafisten. 

Boulos: Ich verwende die Begriffe Moslembrüder und Salafisten fast deckungsgleich, da letztere ihr Produkt sind. 

Warum haben sich die Moslembrüder dann nicht dazu bekannt?

Boulos: Weil sie bestrebt sind, ihr wahres Wesen zu verschleiern. Sie wollen aus politischen Gründen als gemäßigt erscheinen – was sie aber nicht sind. Ich betone jedoch erneut: Der Anschlag ist nicht aufgeklärt, und ich äußere nur meine Vermutungen über die Hintergründe.        

„Gewalt gegen Kopten gehört besonders in den kleineren Städten und Dörfern Oberägyptens zum Alltag“, so der Journalist Christoph Sydow. 

Boulos: Das stimmt leider. Es gibt zum Beispiel in Oberägypten Dörfer, die zu 98 Prozent von Christen bewohnt sind. Aber die Dorfbewohner dürfen es noch nicht einmal wagen, ihren Gottesdienst im Freien abzuhalten. Das gilt für manche schon als Provokation. Allerdings muß man auch sagen, daß die Mehrheit der normalen moslemischen Bevölkerung die Gewalt gegen uns Kopten ablehnt, ja wirklich verabscheut und sich sogar dafür schämt. Und daß wir auch immer wieder erleben, wie sich die normalen Muslime mit uns solidarisieren, wenn wir Opfer von Gewalt werden. 

Koptische Frauen werden allerdings immer wieder entführt und gezwungen, zum Islam zu konvertieren und moslemische Männer zu heiraten. Was steckt dahinter?

Boulos: Ja, allerdings muß man sagen, daß das Ausmaß dieses Problem zum Glück deutlich geringer ist als früher. Außerdem, daß bei weitem nicht jede dieser Geschichten wahr ist. Ja, ich würde sogar sagen, die Mehrheit stimmt nicht – auch wenn ich mit dieser Aussage viele Kopten ärgere. Doch die Fairneß gebietet, das klarzustellen. Gleichwohl gibt es natürlich auch solche Fälle. Und wenn Sie fragen, wer dahintersteckt: Zumeist wieder einmal die Salafisten.

Seit dem im Westen 2011 viel bejubelten Arabischen Frühling soll sich die Lage für die Kopten verschärft haben. 

Boulos: Richtig, seitdem gab es vermehrt Attacken gegen Kopten und koptische Einrichtungen – nicht nur gegen Kirchen, auch gegen koptische Kultur­institutionen, Geschäfte, ja sogar gegen Wohnhäuser koptischer Bürger! Allerdings war die Situation auch schon vor dem Arabischen Frühling unter Präsident Mubarak schlecht. Einige der vorhin genannten Massaker zum Beispiel liegen ja in seiner Regierungszeit.  

Wieso das? Mubarak war doch ein Feind der Islamisten.

Boulos: Aber er war eben auch kein großer Schutz für die Kopten. So hat er etwa die Salafisten aus den Gefängnissen entlassen – gegen das Versprechen, weder Regierungseinrichtungen noch touristische Ziele anzugreifen. Um die Sicherheit der Kopten ging es dabei nicht.  Das ist heute anders. 

Sie vertrauen der Regierung von Präsident as-Sisi? 

Boulos: Ja, man muß anerkennen, daß sie tatsächlich versucht, die Kopten zu schützen.

Nach dem Anschlag versammelten sich allerdings Hunderte Kopten und forderten den Sturz der Regierung.

Boulos: Das war eine Wutreaktion. Nachdem ihren Angehörigen eine so schlimme Sache passiert ist, waren einige natürlich verzweifelt und sehr, sehr wütend. Zum Vergleich: In der Ära Mubarak wurde ich etwa immer wieder von der Regierung belästigt und sogar einmal ins Gefängnis gesteckt. Unter as-Sisi kann ich dagegen ungehindert schreiben. Und Tatsache ist auch, daß as-Sisi der erste Präsident ist, der zum Beispiel zu Weihnachten zu den Kopten in die Markuskathedrale kommt und uns zu unserem Fest gratuliert – und damit übrigens den Zorn der Moslembrüder gegen sich weiter provoziert. Und natürlich wollen sich viele Salafisten auch an den Kopten rächen, weil diese wiederum die Regierung as-Sisi unterstützen. Nun, ich lobe, daß es die Regierung mit dem Kampf gegen die Salafisten ernst meint. Ich kritisiere allerdings, daß sie nur die terroristischen Aktivitäten bekämpft, nicht aber das Denken, also nicht die Ursache für den Haß auf die Kopten. Das ist einerseits zuwenig – andererseits sehr viel mehr als früher. 

Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte spricht allerdings von „systematischer Diskriminierung“ der Kopten.

Boulos: Es gibt in der Tat eine gewisse Diskriminierung von Christen bei uns. So werden Kopten etwa nicht in gewissen gesellschaftlichen Führungspositionen akzeptiert, weil dann ja ein Christ über einem Moslem stünde. So konnte, um nur ein Beispiel zu nennen, unlängst eine Christin nicht Schuldirektorin bleiben, weil das die moslemischen Eltern nicht anerkennen wollten. Oder: die ägyptischen Gesetze erlauben eine Konversion vom Christentum zum Islam, nicht jedoch vom Islam zum Christentum. Aber müßte ein Zivilgesetz nicht alle Bürger gleich behandeln? Etwas ähnliches haben wir, wenn ein Moslem eine Koptin heiratet: dann dürfen die Kinder auf keinen Fall Christen, sondern müssen Moslems werden. 

Dabei war Ägypten einst ein christliches Land. 

Boulos: Das ist richtig. Was vielen Europäern überhaupt nicht klar ist, ist, daß die Christen Ägyptens nicht etwa das Produkt europäischer Missionare sind, sondern daß Ägypten schon vor Europa christlich war. Daß Ägypten lange vor Europa sogar ein Zentrum des Christentums war. Daß es sogar die Wiege des christlichen Mönchswesens ist, das für die Bewahrung der Kultur und der Gelehrsamkeit des europäischen Abendlandes eine entscheidende Rolle gespielt hat! Das Wort Kopte bedeutet übrigens nichts anderes als „Ägypter“. Ägypten wurde einst direkt vom Evangelisten Markus christianisiert, und wir Kopten sehen uns als Nachfahren der Pharaonen; nicht als Araber, denn dann hätten wir uns mit den Arabern vermischt, hätten Moslems werden müssen. 

Wie wurde aus einem einst rein christlichen Land ein moslemisches Land?

Boulos: Durch die Eroberung der Araber im 7. Jahrhundert. Dies bedeutete für die Kopten, entweder Moslems zu werden oder als Dhimmis Kopfsteuer zu zahlen – was sich aber nur Reiche leisten konnten – und mit Diskriminierung zu leben oder getötet zu werden. Das war die „Wahl“, die wir hatten. Allerdings muß man auch sagen, daß bereits vor der Ankunft der Araber viele, viele Kopten getötet und die koptische Kirche verfolgt wurde und zwar von der damaligen christlichen Großmacht Byzanz. Und Christenverfolgungen gab es natürlich seit der Römerzeit.  

Wie reagieren die Araber, wenn Sie ihnen sagen, daß Ägypten eigentlich ein christliches Land war und der Islam erst viel später hierher gekommen ist?

Boulos: Nein, so denken wir heute nicht mehr. Zwar sind sie Araber und wir Kopten, aber heute sind wir alle Ägypter, das ist wichtig. 

Sind Sie enttäuscht, daß die christlichen Europäer sich kaum mit den Christen des Orients solidarisieren?

Boulos: Wissen Sie, ich habe schon auch Verständnis für die Europäer. Was mich allerdings enttäuscht ist, daß es in den europäischen Medien so wenig Interesse gibt, die spezifische Lage der Minderheiten etwa in Ägypten zu verstehen. Die europäischen Medien sprechen gerne abstrakt von Menschenrechten. Sie verstehen aber kaum die konkrete Situation der Christen oder anderer Minderheiten in den islamischen Ländern: wie sich diese fühlen, welche Ängste sie haben, mit welchen Problemen und Gefahren sie konfrontiert sind. Was es bedeutet, mit Terrorismus und Extremismus zu leben. Allerdings geht es auch nicht nur um die Minderheiten, denn auch die normalen moslemischen Ägypter sind ja von den Sicherheits- und den Wirtschaftsproblemen betroffen, unter denen das Land durch die Extremisten leidet. 

Laut der Gesellschaft für bedrohte Völker sollen in den letzten Jahrzehnten über 4.000 Kopten getötet worden und seit 2011 über 100.000 der geschätzten fünf bis acht Millionen Kopten ausgewandert sein. Droht möglicherweise eine Entwicklung wie im Irak, wo in wenigen Jahren die Zahl der Christen von 1,5 Millionen auf etwa 200.000 geschrumpft ist? 

Boulos: Das glaube ich nicht, denn zum einen hat Ägypten eine funktionierende Regierung, die die Kopten zu schützen versucht. Zum anderen gibt es trotz einer gewissen Diskriminierung und des Terrors gegen uns keine vergleichbare Verfolgung wie im Irak. 

Fürchten Sie nicht, daß sich das einmal ändern könnte? Schließlich wurden die Moslembrüder 2012 bereits demokratisch an die Macht gewählt, und die Umwandlung Ägyptens in einen islamistischen Staat konnte offenbar nur durch den Militärputsch as-Sisis abgewendet werden. 

Boulos: Das stimmt, allerdings haben  sich die Moslembrüder durch diese Episode demaskiert, und ihre Regierung ist schließlich mehr am Widerstand der Moslems gescheitert als an dem der Christen. Die normalen Moslems Ägyptens wollen kein salafistisches Land. 

Müssen wir bis Weihnachten weitere Anschläge auf die Christen befürchten? 

Boulos: Ich hoffe, ich irre mich da nicht, aber die Erfahrungen zeigen, daß die Kraft nicht ausreicht, um kurz nach einem Anschlag gleich noch weitere folgen zu lassen. Auch weil die ägyptischen Sicherheitskräfte dann in erhöhter Alarmbereitschaft sind. Ich hoffe also, daß wir Kopten – wenn auch zwei Wochen nach Ihnen in Europa, weil in der koptischen Kirche der alte Kalender gilt – das Weihnachtsfest im Januar doch noch friedlich feiern können.  






Ezzat Boulos, ist Chefredakteur des Online-Dienstes Copts United, einer der führenden koptischen Nachrichtenseiten mit Sitz in Kairo. Geboren wurde Ezzat Boulos 1948 ebendort.    

Foto: Verwüstete Kirche St. Peter und Paul in Kairo nach dem Bombenattentat am 11. Dezember: „Uns Kopten hat es getroffen, weil wir ein leichtes Ziel sind und die Salafisten uns hassen“ 

 

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