© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Aufklärung statt Gesinnungsethik
Der Ökonom Hans-Werner Sinn analysiert die aktuellen Kardinalfehler der bundesdeutschen Politik
Erich Weede

Hans-Werner Sinn ist ein Ökonom mit Pflichtgefühl. Wo es ein drängendes Problem gibt, das unsere Politiker lieber übersehen, fühlt er sich zur Aufklärung verpflichtet. Sein neuestes Buch besteht aus fünf Kapiteln. Das erste ist dem Brexit gewidmet, das zweite der Flüchtlingswelle, das dritte und vierte der Euro-Rettung, das fünfte Vorschlägen, wie eine vernünftige europäische Politik aussehen sollte. Der Titel „Schwarzer Juni“ paßt zum Brexit, weil der im Juni beschlossen wurde, und zur Euro-Rettungspolitik, weil das Bundesverfassungsgericht am 21. Juni nicht gegen die Vergemeinschaftung der mediterranen Staatsschulden zu Lasten Deutschlands vorgegangen ist.

Mit dem Brexit verliert die Europäische Union ihre zweitgrößte Volkswirtschaft. Deutschland verliert den wichtigsten Partner für Freihandelspolitik, denn in den Mittelmeerländern gibt es starke protektionistische Neigungen. Ohne Großbritannien verlieren die freihändlerischen Länder ihre Sperrminorität im Ministerrat der EU. Großbritannien hat als drittgrößter Beitragszahler zur Finanzierung der EU beigetragen. Ein Ausscheiden der britischen Wirtschaft aus dem Binnenmarkt wird auch der deutschen Wirtschaft schaden. Großbritannien wird auch beim Aufbau einer europäischen Sicherheitspartnerschaft fehlen. Dennoch hat die deutsche Politik sich wenig darum bemüht, Großbritannien in der EU zu halten. Mit der „Willkommenskultur“ und dem Kontrollverlust an den Grenzen hat die deutsche Politik sogar die EU-Skepsis in England bestärkt. Die Zugeständnisse an Cameron waren geringfügig. 

Rechtliche Zwänge zur Politik der offenen Grenzen sieht Sinn nicht. Kriegsflüchtlinge und Asylanten kommen in der Regel aus sicheren Herkunftsländern nach Deutschland. Der Syrer ist schon in der Türkei dem Bürgerkrieg entkommen. Es sind wirtschaftliche Gründe, die ein Weiterwandern Richtung Deutschland oder auch Schweden anregen. Auch unter humanitären Gesichtspunkten ist die Grenzöffnung problematisch, weil damit Anreize zu oft lebensgefährlichen Reisen gesetzt wurden.

Sinn verweist auf die starke Nutzung staatlicher Transferleistungen durch die meist nicht hinreichend qualifizierten Zuwanderer. Er diskutiert die Kostenschätzungen zur Integration der Zuwanderer, die von 95.000 bis 450.000 pro Kopf variieren, je nach Annahmen. Bemerkenswert ist der Hinweis Sinns, daß es sich bei diesen Schätzungen eher um Untergrenzen als Obergrenzen handelt. Wenn man deshalb die höchste der genannten Untergrenzen herausgreift, dann entspricht die Aufnahme einer Million Asylanten und Flüchtlinge im Vorjahr der Erhöhung der deutschen Staatsschuld von 71 auf 86 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Freizügigkeit und offene Grenzen sind nicht mit dem Sozialstaat und der baldigen Gleichbehandlung von Deutschen und Zuwanderern kompatibel.  

Seit Juni 2016 muß die EZB nicht mehr befürchten, daß dem Aufkauf mediterraner Staatsanleihen Schranken gesetzt werden. Sinn sieht im nur angekündigten, aber nicht realisierten OMT-Programm (Outright Monetary Transactions) eine kostenlose Kreditausfallversicherung der EZB für die schwachen Euroländer. Das senkt die Zinsen von deren Schulden, ermutigt weiter Schulden zu machen, macht aber mühsame Reformen zwecks Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit unwahrscheinlich. Obwohl Deutschland beim Übergang von der D-Mark zum Euro versprochen wurde, daß der Währungsverbund keine Haftungsgemeinschaft erzeugt, ist die Eurozone dazu geworden. Sinn schätzt die Zinsgewinne der gefährdeten Länder durch alle Rettungsmaßnahmen auf 382 Milliarden Euro, die deutschen Zinsverluste bis 2015 auf 326 Milliarden Euro. 

36 Marshall-Pläne für Griechenland

Im Mittelpunkt von Sinns Kritik stehen die unausgeglichenen Target-Salden, die den Krisenländern erlaubt haben, sich ihren eigenen Rettungsschirm zu schaffen. Sinn verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß Deutschland vielleicht uneintreibbare Target-Forderungen – im Sommer 2016 etwa 348 Milliarden – verlieren könnte, daß das Ausscheiden eines Landes aus dem Euro nicht der einzig denkbare Risikofall ist, sondern mit quantitative easing der Ausbau der Target-Schulden befördert wird. Die potentielle Gesamtbelastung durch fremde Schulden beziffert Sinn auf etwa 450 Milliarden Euro (Stand: Sommer 2016). Wenn man Sinn folgt und die von Deutschland erhaltene Marshall-Plan-Hilfen und das BIP der Nehmerländer zum Maßstab macht, dann hat Griechenland bereits von 36 Marshall-Plänen profitiert. Sinn schätzt, daß jeweils annähernd ein Drittel für die Tilgung griechischer Auslandsschulden, für Auslandsinvestitionen der Griechen und für die Stützung des griechischen Lebensstandards verwendet wurde. 

Im abschließenden Kapitel befürwortet Sinn die Austrittsmöglichkeit für nicht wettbewerbsfähige Länder, eine Konkursordnung für Staaten, die Tilgung der Target-Verbindlichkeiten, EZB-Stimmrechte nach Ausmaß der Haftung und das Heimatland- statt Gastlandprinzip bei Sozialleistungen an zuwandernde EU-Bürger, Asylanträge außerhalb der EU-Grenzen zu behandeln, den Mindestlohn für Berufsanfänger auszusetzen, einschließlich der Migranten. Zudem fordert Sinn Freihandel plus freien Kapitalverkehr ohne Freizügigkeit für Großbritannien. Kann man von einer Bundesregierung so viel Vernunft erwarten, die nicht einmal den unterschiedlichen Wert der griechischen und der britischen EU-Mitgliedschaft für Deutschland erkannt hatte?






Prof. Dr. Erich Weede lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft.

Hans-Werner Sinn: Der schwarze Juni. Brexit, Flüchtlingswelle, Eurodesaster – Wie die Neugründung Europas gelingt. Herder Verlag, Freiburg 2016, gebunden, 382 Seiten, 24,99 Euro