© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Verdämmt und dann verdammt
Bauwirtschaft: Ungelöste Entsorgungsprobleme bei Polystyrol-Dämmstoffen / Bundesrat vertagte Lösung
Christian Schreiber

Die Sachsen wußten es schon immer besser: Als 1989 in Bonn und Berlin noch über Reformsozialismus geschwafelt wurde, schallte in Plauen und Leipzig schon der Ruf: „Wir sind ein Volk!“ Als 1994 der Buß- und Bettag abgeschafft wurde und 1998 der Bundesrat über die Euro-Einführung abstimmte, verweigerte sich einzig der Freistaat Sachsen dem Einheitsvotum.

Auch als der Bundesrat 2015 Polystyrol- oder Dämmstoffe, die das giftige Flammschutzmittel Hexabromcyclododecan (HBCD) enthalten, als „gefährlichen Abfall“ einstufte, verweigerte Sachsen seine Zustimmung, denn die Entsorgungsprobleme waren im wahrsten Sinne des Wortes mit Händen zu greifen: Denn wohin mit dem vielen Styropor? Die meisten HBCD-Abfälle dürfen nun nicht mehr in herkömmlichen Müllverbrennungsanlagen mitverbrannt werden. Gleichzeitig fordert und fördert die – immer weiter verschärfte – Energieeinsparverordnung (EnEV) seit 2002 die Wärmedämmung von Gebäuden.

Hunderte Baustellen mußten stillgelegt werden

„Diese Entwicklung ist deshalb dramatisch, weil so der Entsorgungsweg für mehrere hunderttausend Tonnen Dämmstoffabfall pro Jahr verschlossen wird“, warnten Experten wie Peter Kurth, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft (BDE). Doch seit dem 30. September gilt die Verordnung (EU) 2016/460 vom 30. März zur Änderung der Anhänge IV und V der Verordnung über persistente organische Schadstoffe (POP/EG 850/2004).

Seither müssen die alten Dämmplatten und teilweise der Verschnitt von Neumaterial separat verbrannt werden. Doch dies ist problematisch, denn ein Großteil der Verbrennungsanlagen verfügt gar nicht über die notwendigen Vorrichtungen. Die Folge: Vor allem das Dachdeckerhandwerk leidet unter der Neuregelung. Bundesweit sind mehrere hundert Baustellen deswegen stillgelegt, teilte der Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks (ZVDH) mit. „Erste Betriebe melden, daß sie Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken oder sogar entlassen müssen, wenn es nicht bald eine Lösung gibt“, klagte ZVDH-Chef Ulrich Marx im Sender n-tv.

Bei Gebäudesanierungen fällt der umstrittene EnEV-Abfall massenweise an. Meist handelt es sich dabei um Polystyrol-Dämmstoffe, die vor dem Jahr 2013 verbaut wurden. Diese enthalten das Brandschutzmittel HBCD, damit sie im Falle eines Gebäudebrands nicht so schnell in Flammen aufgehen. Mittlerweile wurde HBCD durch bromiertes Styrol-Butadien-Copolymer (PolyFR) ersetzt, eine patentierten Stoff des US-Konzerns Dow Chemical. In EPS-Isolationsschäumen wird HBCD hingegen vorerst weiter verwendet, obwohl der Stoff seit 2013 in der Gefahrenliste der Stockholmer Konvention über persistente organische Schadstoffe (POP) steht.

Viele Müllverbrennungsanlagen weigern sich, diese Stoffe anzunehmen, weil sie keine Genehmigung dafür haben oder die nunmehr getrennt gesammelten Dämmstoffe wegen ihres hohen Brennwertes aus technischen Gründen nicht verbrennen können. Damit können Dachdecker, die auf Baustellen den Austausch vornehmen sollen, den anfallenden Bauschutt nicht mehr ordnungsgemäß entsorgen. Denn für das Verbrennen von Müll, der „gefährliche Stoffe“ in Konzentrationen von über 0,1 Prozent enthält, müssen die Anlagen zumindest eine Sondergenehmigung haben – und diese besitzen nur die Wenigsten.

Die Süddeutsche Zeitung beklagt, daß sich auch Containerfirmen weigerten, nun Bauschutt mit dem alten Dämmstoff abzufahren. Die Folge sei ein riesiger Rückstau, der zu einer echten Belastung für die Branche werde. Die Baufirmen sind sauer auf die Politik. „Die Situation für die Handwerksbetriebe bleibt dramatisch. Sie bleiben auf dem Abfall sitzen“, sagte Hans Peter Wollseifer, der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) der Leipziger Volkszeitung: „Bauvorhaben können nicht abgearbeitet werden, werden gestoppt oder gar nicht erst gestartet.“ Um weitreichende Folgen für die Bürger sowie Kündigungen oder Betriebsschließungen im Bauhandwerk zu verhindern, müsse „dieser Notstand dringend beendet werden.“

Steigende Preise bei den Müllverbrennungsanlagen

Das Bundesumweltministerium sieht sich an der Entsorgungsmisere unschuldig. „Diese Notlage ist durch den Bundesrat veranlaßt“, erklärte Ministerin Barbara Hendricks. Man habe den Ländern geraten, dieser Maßgabe nicht zuzustimmen, aber diese hätten „gegen unsere Empfehlung gehandelt. Nun steigen die Preise bei den Müllverbrennungsanlagen ins Unermeßliche“, so die SPD-Politikerin. Doch die waren mehrheitlich dem schwarz-grün regierten Hessen gefolgt, das die HBCD-Einstufung als gefährlicher Abfall im Umweltausschuß des Bundesrates betrieben hat.

Vertreter der Bundesländer schoben den Schwarzen Peter mittlerweile zurück: „Wenn das Bundesministerium Vorbehalte gegen die vom Bundesrat getroffene Regelung gehabt hätte, „hätte die Bundesregierung von ihrem Recht, eine vom Bundesrat beschlossene Verordnung nicht zu verkünden, Gebrauch machen müssen“, entgegnete der rheinland-pfälzische Umweltstaatssekretär Thomas Griese von den Grünen.

BDE-Chef Kurth fordert eine Revision des Bundesratsentscheids. Einige Bundesländer reagierten bereits pragmatisch: Das Kreislaufwirtschaftsgesetz kennt Ausnahmeregelungen. Diese erlauben vorerst das vermischte Verbrennen von HBCD-haltigen Platten zusammen mit anderem Baumüll. Aber das ist keine Dauerlösung. Und manche Baufirmen greifen schon zur Selbsthilfe: „Das Schlimmste, was passieren kann ist, daß die Dämmstoffplatten jetzt einfach in den Wald gefahren werden. Die Idee einer auf Umweltschutz bedachten Regelung für die Kreislaufwirtschaft würde so ad absurdum geführt werden“, so Kurth.

Illegal deponiertes HBCD ist tatsächlich eine Umweltgefahr: Das sehr langlebige Umweltgift reichere sich in Organismen an und stehe im Verdacht, fortpflanzungsschädlich zu sein, warnt das Umweltbundesamt (UBA). Sachsen und das Saarland haben nun auf der 87. Umweltministerkonferenz (UMK) am 2. Dezember bei ihren Länderkollegen dafür geworben, bei der Bundesratssitzung am 16. Dezember einer Änderung der Abfallverzeichnisverordnung zuzustimmen. Doch der BDE-Präsident ist skeptisch: Es sei bedauerlich, daß sich die UMK nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen konnte. „Auf diese Weise wird das HBCD-Problem verschleppt“, kritisiert Kurth. Er glaube nicht, daß sich das Problem noch in diesem Jahr lösen läßt. Zudem drohe wahrscheinlich ein „föderaler Flickenteppich aus Einzelregelungen“.

Das UBA empfiehlt seit Jahren umweltfreundlichere Dämmstoffe wie zum Beispiel Mineralwolle. Diese ist zwar teurer, aber Glaswolle hält Temperaturen von etwa 700 Grad Celsius stand. Steinwolle hält sogar 1.000 Grad aus. Auch langlebige und schallabsorbierende Holzfaserplatten eignen sich zur Dämmung. Eine weitere Alternative entwickeln derzeit Bauchemiker der Universität Siegen: sie setzen auf ein neues Verfahren, um Schaumbeton herzustellen. Dadurch könnte Styropor in Zukunft überflüssig werden. Aber bis es soweit ist, soll es noch einige Jahre dauern.

Hintergrundpapier „Häufig gestellte Fragen und Antworten zu Hexabromcyclododecan“:  www.umweltbundesamt.de/