© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Pidgin-Deutsch für alle
„Leichte Sprache“: Hinter den Kampagnen für das Neusprech stecken finanzielle Interessen und eine ideologische Agenda
Michael Paulwitz

Seit etwa einem Jahrzehnt ist die „Leichte Sprache“ in Internetauftritten, Broschüren und Publikationen staatlicher Einrichtungen, Behörden und öffentlicher Organisationen auf dem Vormarsch. Der „Deutsche Bundes-Tag“ hat ein Angebot in „Leichter Sprache“, das „Bundes-Ministerium für Arbeit und Soziales“ (BMAS) hat „in Zusammen-Arbeit“ mit dem „Netzwerk Leichte Sprache“ einen Ratgeber dazu erstellt; wenn es nach den bayerischen Grünen geht, sollen Wahlunterlagen und anderes grundsätzlich so abgefaßt werden. Das Pisa-Problemland Bremen hat das bei der letzten Bürgerschaftswahl zum Befremden seiner Bürger schon mal vorexerziert.

Sie wundern sich über die textzerhackenden „Binde-Striche“? Die gehören dazu. Nach den Grundsätzen des 2006 gegründeten „Netzwerks Leichte Sprache“ sollen längere und zusammengesetzte Wörter mit Strichen, Punkten oder völliger Getrenntschreibung zerlegt werden; auch wenn, was vorgeblich der leichteren Lesbarkeit dient, die Sinnrichtung verändert und im Schriftbild neue Stolpersteine schafft. Kurze Sätze – maximal acht Wörter, verlangt die „Aktion Mensch“ – sollen verwendet und strikt nach Subjekt-Prädikat-Objekt-Muster gebildet werden.

Passiv, Konjunktiv und Genitiv sind ebenso zu vermeiden wie abstrakte Begriffe, Fremd- oder Fachwörter; sind diese unumgänglich, müssen sie in „Leichter Sprache“ erklärt werden. Statt Zahlwörtern sollen durchgehend Ziffern verwendet werden. Zudem soll jeder Satz nur eine Aussage enthalten und am besten in einer eigenen Zeile stehen; Versalien, Kursiv- und Serifenschriften sind unerwünscht, Bilder zum besseren Textverständnis dagegen willkommen.

Wie Vorschulfernsehen     für Erwachsene

Das hört sich nach Erstkläßler-Fibel oder Vorschulfernsehen an und liest sich in der praktischen Umsetzung auch so. Zum Beispiel auf der Netzseite einer bayerischen „Politikerin von der Grünen Partei“: „Viele Leute haben mich gewählt. Jetzt bin ich Abgeordnete im Landtag von Bayern, in München. Dort werden wichtige Sachen entschieden. Zum Beispiel, wie wir die Umwelt schützen können.“

Dem Anspruch nach soll „Leichte Sprache“ Menschen, denen dies sonst schwer bis unmöglich wäre, den Zugang zu öffentlichen Informationen und zur literarischen Überlieferung ermöglichen. Tatsächlich geht die „Leichte Sprache“ über sinnvolle stilistische Hinweise für besseres und verständlicheres Deutsch – etwa den Verzicht auf behördensprachliche Unsitten wie endlose Schachtelsätze, schwerfällige Passivkonstruktionen und umständlichen Nominalstil – weit hinaus. Der Versuch, eine neue Sprache am Reißbrett zu schaffen, unterscheidet die „Leichte Sprache“ von der ebenfalls bisweilen propagierten „Einfachen Sprache“, die weniger tief in gewachsene standardsprachliche Strukturen eingreift.

So erinnert die Aufforderung, bei der Verwendung „Leichter Sprache“ Negativbegriffe grundsätzlich zu vermeiden, schon eher an Sprachsäuberungen Marke Orwell („doppelplusungut“). Statt fünf- oder sechsstelliger Zahlen solle man doch lieber gleich von „viele“ sprechen – da ist das Eingeborenen-Pidgin nicht mehr weit. Wo Abstraktion und differenzierte Auseinandersetzung mit komplexen Sachverhalten systematisch reduziert und tabuisiert werden, ist der Manipulation und Propaganda durch radikale Vereinfachung Tür und Tor geöffnet – nicht von ungefähr klingen politische Texte in „Leichter Sprache“ wie die Kinder-„Nachrichten“ aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Der flächendeckende Einsatz „Leichter Sprache“ sei denn auch „ein weiteres Beispiel dafür, was passiert, wenn der Staat versucht, Sprache zu politischen Zwecken zu instrumentalisieren“, argwöhnt Bastian Sick, Autor des Sprachpflege-Dauerbrenners „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“, den vor allem das Gebot, den angeblich zu komplizierten Genitiv durch umgangssprachliche „von“-Konstruktionen zu ersetzen, gegen die Vereinfacher-Lobby aufgebracht hat.

Der ohnehin in Medien und öffentlichen Verlautbarungen eingerissenen Sprachschlamperei wird durch staatlich propagierte und geförderte Sprachvereinfachungsapparate noch weiter Vorschub geleistet. Die Bild-Zeitung ist auch ohne Subventionen ein Vorreiter der „Leichten Sprache“, merkt Sick mit Blick auf die überhandnehmenden willkürlichen Bindestrich-Schreibungen in den Schlagzeilen der Boulevardzeitung an. Gegen Journalisten und Medienschaffende, die Konjunktiv und Genitiv nicht mehr korrekt zu verwenden wissen und dabei mitunter unfreiwillige Komik produzieren („Sicherheitsbeamter von Gauck beklaut“), zieht der Sprachkritiker schon länger zu Felde.

Zwar spricht vieles dafür, daß Texte in „Einfacher Sprache“, die dennoch auf korrekte Grammatik achtet, für bestimmte Gruppen, etwa für Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwäche, durchaus hilfreich sein können. Die von Grünen und einschlägigen Lobbyisten gewollte pauschale Anwendung des weitergehenden Kunstprodukts „Leichte Sprache“ für alle, damit die „Schwächeren“ sich gar nicht erst „ausgeschlossen“ und „diskriminiert“ fühlen, schafft dagegen neue Bevormundung: Wer beispielsweise vor Wahlen nur noch in „Leichter Sprache“ angesprochen wird, muß zu dem Schluß kommen, seine Regierung halte sämtliche Bürger für lernbehindert.

Handfeste finanzielle und ökonomische Interessen

Hinter dem Aufschwung der verordneten Sprach-Simplifizierung – verschiedentlich sind Behörden bereits verpflichtet, auch Angebote in „Leichter Sprache“ vorzuhalten – stecken zum einen handfeste finanzielle und ökonomische Interessen. Wo neue Bedarfe geschaffen und auf staatliche Verordnung nachgefragt werden, sind die Dienstleister nicht weit, die sie mit Übersetzungen, Schulungen und Überprüfungen bedienen, Qualitätssiegel und Zertifikate verleihen und sich ihre Dienste gut bezahlen lassen. Nicht zufällig gehörten Verbände des Bibliotheks- und Verlagswesens, die sich davon neue Absatzfelder versprechen konnten, international zu den frühen Antreibern der Sprachvereinfachung.

Die „Übersetzung“ der Wahlunterlagen hat das Land Bremen sich 50.000 Euro kosten lassen. Im 2006 gegründeten „Netzwerk Leichte Sprache“, das seit 2013 als „Verein“ firmiert, sind 94 Einzel- und Fördermitglieder aus dem gesamten deutschen Sprachraum zusammengeschlossen – Einzelpersonen, Übersetzungsbüros, Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Wohlfahrtsverbände. An den Universitäten Hildesheim und Leipzig sind entsprechende Forschungseinrichtungen entstanden, die Behörden und Unternehmen beraten und bewerten; in Leipzig werden mit BMAS-Geldern neue Anwendungsmodelle entwickelt.

Zum zweiten ist die ideologische Agenda unübersehbar. Das wird schon daran deutlich, welche – im Grunde für jedermann wünschenswerten – Vereinfachungen in „Leichter Sprache“ gerade nicht vorgenommen werden: Das BMAS spricht auch in „Leichter Sprache“ stur von „Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“. Dem Konzept liegt ein rein funktionales Verständnis von Sprache zugrunde, wie man es aus marxistischen Theorien der Linguistik kennt. Sprache wird auf ihre „soziale“ Rolle als Mittel zur Weitergabe simpler Informationen und damit von Inklusion und „Teilhabe“ reduziert.

„Daß in und mit Sprache gedacht und argumentiert, abgewogen und nuanciert, differenziert und artikuliert wird, daß es so etwas wie Rhythmus, Stil, Schönheit und Komplexität als Sinn- und Bedeutungsträger in einer Sprache gibt, wird schlicht unterschlagen oder als verzichtbares Privileg von Bildungseliten denunziert“, kritisiert Konrad Paul Liessmann, Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. 

Von „Übersetzung“ komplexer Texte in „Leichte Sprache“ zu reden hält Liessmann für einen „gefährlichen Euphemismus“: Denn es gehe „nicht darum, einen Text mit all seinen Nuancen und Bedeutungsebenen von einer in eine andere Sprache zu übertragen, sondern um den Versuch einer radikalen Reduktion, Verflachung und Vereinfachung. Leichte Sprache ist seichte Sprache“.

Das Konzept „Leichte Sprache“ fügt sich nahtlos in eine Bildungsideologie ein, die auf den alarmierenden Verfall des Bildungsniveaus – bereits 2011 gingen Schätzungen von 7,5 Millionen funktionalen und totalen Analphabeten im erwerbsfähigen Alter aus, wobei die zweite Gruppe etwa ein Drittel ausmacht – nicht mit höheren Lern- und Leistungsanforderungen antwortet, sondern mit weiterer Niveauabsenkung und der Ausdehnung der Sozialindustrie auf zusätzliche Betreuungsfälle.

Dafür wurden die Zielgruppen der „Leichten Sprache“, die sich ursprünglich an einen überschaubaren Personenkreis von Menschen mit Lernbehinderungen richten sollte, willkürlich ausgeweitet. Eine Präsentation der Diakonie zählt als weitere Adressaten geistig Behinderte, Hirngeschädigte, Hörgeschädigte und Gehörlose, Sehbehinderte und Blinde, „Menschen mit Migrationshintergrund“ und ältere Menschen auf.

Da es älteren Menschen, anders als heutigen Schulabsolventen, in der Regel nicht an soliden Lese- und Schreibkenntnissen mangelt, Körperbehinderte, Taube und Blinde nicht zwangsläufig lernschwach sind und geistig Behinderte oder neurologische Patienten von spezialisierten Experten betreut werden, liegt der Verdacht nahe, daß es letztlich nur um die wachsende Zahl schlecht oder gar nicht ausgebildeter und nicht selten analphabetischer Einwanderer geht.

Niveauabsenkung auf Migranten-Standard

Ein Ablenkungsmanöver zur Immunisierung gegen Kritik, meint der Konstanzer Professor für Sprachwissenschaft Josef Bayer: „Die Forderung nach leichter Sprache ist nichts anderes als Teil eines fadenscheinigen Programms zur Absenkung unserer Standards. Und es geht dabei trotz allen Behindertengetues um nichts anderes als um Migranten. Nicht die Migranten sollen angehalten werden, die Sprache des Gastlandes ausreichend zu lernen, sondern die Bevölkerung soll sich auf die Standards der Migranten einstellen.“ Wer dann noch immer Einwanderer wegen fehlender Sprachkenntnisse und Schulabschlüsse nicht „inkludieren“ und für qualifizierte Berufe zulassen will, kann unversehens zum Behindertenfeind gestempelt werden. Und das kann ja wohl wirklich keiner wollen.





Behindertengleichstellungsgesetz

Das im Jahr 2002 in Kraft getretene Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) wurde unter Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) weiterentwickelt und an gesellschaftliche und technische Entwicklungen angepaßt. Mit den Neuregelungen, die am 27. Juli 2016 in Kraft traten, soll, Angaben des Bundesministeriums  für Arbeit und Soziales zufolge, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und die Barrierefreiheit der öffentlichen Verwaltung „weiter verbessert“ werden. 

Vor allem sollen die Bundesbehörden künftig „vermehrt“ Informationen in Leichter Sprache bereitstellen und ab dem Jahr 2018 Bescheide auch in Leichter Sprache erläutern. Bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See wurde entsprechend eine Bundesfachstelle Barrierefreiheit errichtet. Sie soll insbesondere Behörden und Verwaltungen zum Thema Barrierefreiheit beraten und unterstützen. Darüber hinaus könne sie auch „Wirtschaft, Verbände und Zivilgesellschaft“ beraten. Gerade hier sieht  die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, Bedarf: Private Unternehmer seien auch nach der Reform nicht verpflichtet, Barrieren abzubauen. So müsse ein Apotheker noch immer nicht die Stufen vor seinem Geschäft für Rollstuhlfahrer ebnen. Und er ist auch nicht verpflichtet, Informationen über Medikamente in einfachem Deutsch anzubieten.