© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/16 / 09. Dezember 2016

Litaneien der Offenheit
Open Access in der Ära der Abgehängten
Wolfgang Müller

Ralf Schimmer ist stellvertretender Leiter der Max Planck Digital Library und zuständig für die elektronische Informationsversorgung aller Institute der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Damit sitzt er zwar an einer Schaltstelle der größten deutschen Wissenschaftsorganisation, wäre aber außerhalb seines Münchner Büros kaum aufgefallen, wenn er nicht sein öffentliches Profil als einer der lautesten Propagandisten der „Open-Access-Bewegung“ geschärft hätte.

Bei Open Access (OA) geht es um „offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen“, der für Aktivisten wie Schimmer nur gewährleistet ist, wenn jeder Text in elektronischer Form publiziert wird, um für jedermann greifbar zu sein (JF 43/16). Obwohl Schimmer seit Jahren für OA missioniert und die MPG auch dank seines Engagements als „eine der treibenden Kräfte weltweit anerkennt“ ist, geht ihm der Einzug ins digitale Zeitalter zu langsam voran. Deswegen beklagt er in einer Zwischenbilanz (Max Planck Forschung, 3/2016), daß erst 15 Prozent aller Fachartikel eines Jahres über OA verfügbar sind. Die Möglichkeiten zu „maximaler Verbreitung in Echtzeit“, die das Netz biete, würden damit erst ansatzweise ausgeschöpft. Einen zackig-militärischen Ton anschlagend, ruft der ungeduldige Schimmer daher nach „einer wirkungsvollen Delegitimierung“ der aus dem Diluvium des Verlagswesens stammenden „Distributions- und Finanzierungbedingungen“, um OA „voranzubringen“, „überall zu verankern“, „in der Fläche durchzusetzen“. 

Das solchem Verbalradikalismus zugrundeliegende Verständnis von Wissenschaft, die angeblich ohne Internet „nicht mehr vorstellbar ist“, geht vom inhumanen Ideal aus, jeder Mensch sollte alles wissen. Ein auf „demokratische Teilhabe“ gerichteter Wissens-Kult, der nicht nur unter den Bedingungen der Globalisierung, die immer größere Massen schlecht ausgebildeter „Abgehängter“ ausspuckt, abstrus wirkt. Auch von der Realität wissenschaftlicher Produktion, die spezialisiertes Wissen in engen Fachdiskursen vermehrt, ist dies weit entfernt. Wer über Zellteilung forscht, giert nämlich selten danach, „in Echtzeit“ auf brandaktuelle Deutungen der Minnelyrik zugreifen zu dürfen. 

Wenn also OA für Forscher nur begrenzten Nutzen hat: Wer profitiert? Schimmer verrät es nicht. Vielleicht weil er nicht übersieht, daß er sich zu jenen „nützlichen Idioten von Großinvestoren“ macht (Thomas Thiel, FAZ vom 30. November 2016), deren „Wissensgesellschaft“ demokratische Teilhabe nicht vorsieht.